Gefunden im Nachlass von Maria vH, geborene Meyer verheiratet 1931-1987 mit Hans vH
Aufgearbeitet und illustriert vom Urenkel PvH 2017/18
Photos aus den Nachlass und eigene.
Aus dem Nachlass von Maria von Hünerbein (*1906 gest. 1997), geborene Meyer
Das Leben von Maximilian
Meyer (*1867) und
Martha, geb. Redmer (*1880) bis 1945
Gefunden im Nachlaß von Maria von Hünerbein, geb. Meyer In einer Leitzmappe aus Karton beschriftet:
Deine Großelternteile Maximilian Meyer und Martha, geb. Redmer
Bemerkung von Autor Otto Meyer: Fortsetzung folgt auf Wunsch
Inhalt:
Herkunft 4
Max in Schleswig-Holstein 7
Heirat Martha und Max 1904 11
Großvater Redmer starb am 5. April 1888 in Ratzebuhr 12
Zanow Geburt Maria 5.12.1906 und Cammin 1907 14
Kammin Geburt der Brüder 1909, 1911, 1915, 1919 23
Am 19.10.1918 starb Großmutter Marie Redmer 34
Selbständige Kanzlei in Kammin 39
Nur ein Idiot kann heute noch vaterländisch denken 41
1932 Umzug nach Podejuch bei Stettin 44
Im Herbst 1944 sah ich Vater zum letzten Male 48
Kamen Kinder zu ihnen, so war es für die Eltern ein Fest 49
Vierte Fassung, gründlich überarbeitet
Aufgearbeitet und illustriert von
Peter von Hünerbein, Enkel von Maria, Urenkel von Max und Martha im Januar 2018.
Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Maximilian
Heinrich Friedrich Meyer
geboren 26.9*.1867 in Minikowo bei Posen gestorben im Januar 1945 in Podejuch
Max 45 Jahre und Martha 32 Jahre alt an der Ostsee 1912 MM02a
Helene Meyer geborene Redmer geboren 8.2.1880 in Barzen
(Kreis Neustettin Pommern) vermisst in Pommern seit März 1945
1.10.1904 in Berlin
Martha
Eheschließung:
Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
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ImHerbst 1944 hatte Vater auf meine Bitte, seine Lebenserinnerun-
gen und viele Dinge, die ihm von seiner Familie und seinen Vorfahren be- kannt waren, niedergeschrieben.
Es war ein ziemlich dickes Bündel geworden. Die wenigen Stunden, die ich damals noch mit ihm zusammen sein konnte, reichten nicht
aus um alles gründlich zu lesen.
Bei meinem nächsten und letzten Besuch in Podejuch Ende Februar 1945 war Vater nicht mehr am Leben. Die Schrift ging bei den nachfolgenden Kriegsereignissen verloren. Trotz meines
schlechten Gedächtnisses will ich versuchen, das was mir über meine Eltern noch bekannt ist, niederzu- schreiben.
Vielleicht interessieren sich meine Kinder und Enkelkinder hierfür, viel- leicht finden sie auch hierdurch für manche Dinge eine Erklärung, die ihnen sonst verschlossen bleiben würden.
Das Gut Minikowo bei Posen gehörte Großvater Gustav Meyer.
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Vater, geboren am 26.9.1867, war das viertälteste von vierzehn Ge- schwistern.
Im Alter von etwa vier Jahren erkrankte er an einer Knochen-Tuberkulose, die ihn praktisch bewegungsunfähig machte. Der Hausarzt, ein alter Kreis- medicus, gab sich mit dem Patienten zwar viel Mühe, konnte aber nur dauerndes Siechtum und einen frühen Tod in Aussicht stellen. Von seinen Eltern wurde Vater mit großer Liebe und Geduld gepflegt. Sie ließen nichts
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unversucht, wenn nicht Heilung, so doch Linderung des Leidens zu errei- chen. Die Ernährung wurde planmäßig betrieben, vor allem aber wurde für möglichst viel Bewegung an frischer Luft gesorgt, und an guter Luft war in Minikowo kein Mangel. In einer kleinen Kutsche, die zunächst von ei- nem Hund und später von einem Pony gezogen wurde, konnte Vater im Guts Park und in der Umgehung des Gutes spazieren fahren.
So gelang es, die Tuberkulose schließlich zum Stillstand und zur Verkap- selung zu bringen Das rechte Bein blieb freilich im Kniegelenk um fast 90° gekrümmt, das Knie blieb steif. Da es bei dem damaligen Stande der Me- dizin bei einer Streckung stark verkürzt worden wäre, blieb es dabei.
Minikowo lag in Posen, östlich von Bromberg, zwischen Slesin und Strelau in der Nähe des Bromberger Kanals der das Flüsschen Netze mit der Weichsel und die Stadt Bromberg ver- bindet.
Vater konstruierte später ein Eisengestell, auf das der recht rechte Ober- schenkel stützend aufgelegt wurde, der dann ebenso wie der Unterschen- kel am dem Gestell festgeschnallt wurde. Die Fußsohle wurde auf eine bewegliche Platte, die der Schuhform angeglichen war, gestützt. Das Ge- stell quietschte zwar etwas, gestattete Vater aber eine ziemliche Bewe- gungsfreiheit. Bei den vielen und weiten Wanderungen, die er später auch mit seinen Kindern unternahm, lockte das Gestell aus nah und fern Hunde an, die Vater wütend angriffen, in der Regel aber nur den Krückstock er- wischten, den Vater auf seiner Rückseite pendeln Hess, ohne sich umzu- sehen. Uns Kindern war dabei gar nicht wohl zu Mute, und wir bewunder- ten seine Ruhe und Furchtlosigkeit sehr. In späteren Jahren wurde Vater wegen seines Gestells „Eisenmeyer“ genannt; sein lautes Lachen trug ihm auch den Spitznamen „Lachmeyer“ ein.
Da Vater wegen seines Leidens eine Schule nicht besuchen konnte, über- nahm ein Privatlehrer den Unterricht, der mit der Obersekundareife ab- schloss. Der Wunsch Vaters, Priester, möglichst Ordenspriester zu wer- den, blieb aus Gesundheitsgründen unerfüllt. Er trat als Justizanwärter in den Justizdienst ein.
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Großvater Gustav Meyer (*30.7.1834 in Glumpenau, bei Neiße, Kreis Op- peln, Schlesien heute Glebinow, gestorben 2.7.1909 in Stettin) hatte in- zwischen als Folge der Wirtschaftskrise in den 1880-iger Jahren Minikowo aufgeben müssen und wurde Spezialkommissar (heute: Kulturamtsvorste- her), zunächst in Stargard, später in Stettin.
In dieser Gegend wurde Vater für den Beruf des Amtsgerichtssekretärs ausgebildet. Nach bestandenem Aktuar-Examen arbeitete er bei Gerich- ten in Stargard und später in Stettin, zu seinem Leidwesen meistens ohne Gehalt. Damals trug der junge Beamte allein das Risiko, eine bezahlte Stelle zu bekommen. Der Staat ließ ihn zwar arbeiten, bezahlte ihn aber nur dann, wenn eine der wenigen "Diätarienstellen" frei war. Das passierte in den ersten Aktuariatsjahren aber nur sehr selten.
Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in Schleswig- Holstein bezahlte Aktuare gesucht. Vater meldete sich für diesen Bezirk und ver- brachte dort einige unbeschwerte schöne Jahre.
Gerne setzte er auf Nordseeinseln zu Gerichtstagen über, auch Helgo- land war dabei. Nichtraucher, Wenigtrinker und kaum Frauengeschichten befasst, konnte er einen beträchtlichen Teil, seines Gehalts zur
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Unterstützung seiner Eltern und Geschwister verwenden. Zu einem Weih- nachtsfest schickte er z.B. einen Käse von der Größe eines Wagenrades nach Hause. Daneben sparte er noch etwas zur Erfüllung seines Lieb- lingswunsches: Besitzer einer leistungsfähigen Bücherei zu werden. Die- sem Zweck dienten, wie ich vermute, auch Skatabende, bei denen es frei- lich nicht um bedeutende Summen ging. Aber sein gutes Skatspiel hat ihm doch wohl zu einigen guten Büchern verholfen. Oft und mit großer Hin- gabe spielte er Schach, und schon damals zählte er zu den Spitzenspie- lern der kleineren Städte, in denen er tätig war.
Nachdem die Zeit in Schleswig-Holstein abgelaufen war, kam Vater nun als voll bezahlter Aktuar an das Amtsgericht Garz/Oder. Diese Zeit muss sorgenfrei und glücklich gewesen sein. Im Kultur- und Geselligkeitsverein war er sehr aktiv tätig. Kleine Bühnenstücke wurden einstudiert, man fand sich zu gemeinsamen Ausflügen, Konzerten, Dichterlesungen und ande- ren Geselligkeiten zusammen. Vater verehrte damals Selma Peschke, die älteste Schwester meiner späteren Schwiegermutter. Zu einer Ehe kam es jedoch nicht, vielleicht, weil Großmutter Peschke eine solche Verbin- dung aus konfessionellen Gründen nicht billigte, vielleicht aber auch, weil Selma im Haushalt unentbehrlich war. Eine Schwester Vaters, Margarete (geboren 1875), heiratete später einen jüngeren Bruder Selmas, Franz.Die jüngste Schwester von Selma, Maria, unsere Omi, war damals ein munterer Backfisch, Sie begleitete ihre Schwester und Vater oft bei Spa- ziergängen und Ausflügen und machte dabei ihre Späße. Sagte Vater in einer poetischen Anwandlung: „Diese wunderbare Luft muss man einzie- hen lassen, und man fühlt sich innerlich gereinigt“, so verlegte die kecke Maria die Betonung so, daß schließlich herauskam „Man müsste einen ziehen lassen“.
Um 1900 wurde Vater beim Amtsgericht Zanow bei Köslin als Amtsge- richtssekretär planmäßig angestellt. Hier richtete er sich in einer Jungge- sellenwohnung gemütlich ein; auch eine eigene, verhältnismäßig leis- tungsfähige Bücherei war nun sein Eigen.
Ich kann mich noch an schöne und reich illustrierte Ausgaben des Alten und Neuen Testaments mit gotischem Druck und in Leder eingebunden, an Werke der Geschichte, der Religion, der Philosophie und der Enzyklo- pädie erinnern. In einem kleinen Freundeskreis wurde - vornehmlich über literarische, geschichtliche und philosophische Themen - oft und lange diskutiert. Vater berichtete über einen jungen Arzt, der zu diesem Kreis gehörte und lieber Schriftsteller als Arzt geworden wäre.
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Zanow bei Köslin
zu erkennen ist der Bach durch das Dorf (in West-Ost Richtung)
die Entfernung zum nächsten Nachbardorf im Norden und ganz links unten
der Gollenberg (dicht bewaldet) auf dem Fußweg nach Cölin (in 10 km Entfernung) Heute wird offenbar eine neue Autobahn direkt am Dorf vorbei gebaut
Die Ferien verbrachte Vater meistens bei Fischer Parnow in Laase bei Köslin, einem kleinen Fischerdorf auf einer schmalen Landzunge, die den ziemlich großen Jasmunder See von der Ostsee trennt.
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Hier wurden meine Frau und die beiden ältesten Kinder zu Beginn des Russlandkrieges 1941 als Feriengäste sehr freundlich aufgenommen. Laase hatte sich zu Beginn dieses Jahrhunderts zu einer kleinen Ferien- kolonie entwickelt, die vornehmlich von Beamten der Preußischen Ober- rechnungskammer in Potsdam aufgesucht wurde. Versuchen, Vater mit einer ältlichen Tochter eines arrivierten Rechnungsbeamten zu vereheli- chen, und damit Aussicht auf eine der damals sehr seltenen Beförde- rungsstellen zu erhalten, widerstand er, wohl auch deshalb, weil er sein behagliches Junggesellenleben in Zanow nicht aufgeben wollte.
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Das Junggesellenleben endete aber trotzdem bald.
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Etwa 1902/1903 lernte er in Laase meine Mutter kennen, und am 1. Oktober 1904 heiratete er sie.
Mutter Martha wurde am 8. Februar 1880 als zweitjüngste von neun Kin- dern, von denen sechs das Kindesalter überlebten, in Barken (Kreis Neustettin) geboren. Ihr Vater -Theodor Otto Redmer, geboren am 1, Ja- nuar 1834 in Plietnitz (Kreis Neustettin) - war, wie seine Vorfahren, Gut- spächter. Er muss wohl ziemlich leichtsinnig gewesen sein, denn er trank gerne und viel und spielte mit Leidenschaft Karten, meistens um hohe Be- träge.
Barken und Plietznitz (nicht eingetragen, liegt nördlich von Hasenfier) und Ratzebuhr Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
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Als ich 1928 in den Sommermonaten bei dem Amtsgericht Neustettin ar- beitete, bewohnte ich dort ein möbliertes Zimmer bei zwei alten Damen, die, wie sich später herausstellte, entfernt mit Mutter verwandt waren. Sie erzählten mit von einem früheren Gutspächter, der mehr als einmal am Sonnabend mit einem vierspännigen Fuhrwerk, mit Getreide und an- deren landwirtschaftlichen Produkten voll beladen, in Neustettin einzog, dort alles - einschließlich Pferd und Wagen - verspielte und am Montag ohne Geld und zu Fuß heimkehrte. Als ich darüber mit Mutter sprach, weinte sie. Es war ihr Vater.
Großvater Redmer starb am 5. April 1888 in Ratzebur (Kreis Neustettin) im Alter von 54 Jahren, arm, krank und von Sorgen geplagt. Die Gutspach- tung mußte aufgegeben werden; die verarmte Familie zerstreute sich.
Mutter wurde von ihrer ältesten Schwester Klara in Berlin aufgenommen und liebevoll betreut. Klara war mit Hermann Roeske verheiratet, der als "Feuerwerker" Berufssoldat war; diese Laufbahn aber wegen zu schwa- cher Finanzen aufgeben musste. Er wurde Beamter hei der Landesversi- cherungsanstalt. Sparsam, solide und zuverlässig, brachte er es zu einer geachteten Stellung und zu einem schönen großen Villengrundstück in Berlin-Lichterfelde-Süd, Berliner Str. 115.
Heute ein großer Wohnblock, an dieser Adresse steht wohl schon lange keine Villa mehr
Als ich im Sommer 1927 bei Roeske wohnte, erzählte mit Onkel Hermann einmal: Ein Vetter von ihm besuchte ihn einst, nach etwa 10 Jahren wieder und nach einem weiteren Jahrzehnt zum dritten Male. Stets trug Onkel Hermann einen guten braungestreiften Anzug. Auf die Frage seines Vet- ters, beim zweiten und dritten Besuch, weshalb er immer Anzüge dessel- ben Stoffmusters trug, schmunzelte Onkel Hermann nur. Es war immer derselbe Anzug.
So genügsam Onkel Hermann für seine Person war, so freigiebig war er gegenüber seiner Familie, und für Verwandte und andere Mitmenschen hatte er stets etwas übrig.
Sein einziger- Sohn Erwin fiel im ersten Weltkriege bei Langenmarck, 17 Jahre alt. Diesen Verlust hat Onkel Hermann nie ganz verschmerzen kön- nen. Von besonderer Tragik ist, daß auch seine einzige Tochter Erna, ver- ehelichte Jander, ihren einzigen Sohn, im zweiten Weltkriege verlor. Auch er war nur 18 Jahre alt, als er in Russland starb.
Die Zeit bei Roeske war für Mutter schön und unbeschwert. Noch oft hat sie uns Berliner-Lieder und Operettenpartien vorgesungen und mit uns dazu getanzt.
Nach der Schulzeit lernte Mutter Modistin, Hüte dekorieren und
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Schneiderei. Sobald es die Finanzen erlaubten, fuhr sie mit Roeskes in die Sommerferien nach Laase, wo sie Vater kennenlernte.
Als Kind fiel mir einmal ein Bündel Briefe in die Hände, die Vater um 1905 herum an sie geschrieben hatte. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich die Briefe las. Sie überraschten mich durch die herzliche, roman- tische und geradezu rührende Art der Werbung. Derartiges hatte ich Vater nie zugetraut, und Ähnliches habe ich nie zustande gebracht.
Nach der Hochzeit am 1. Oktober 1904 - bezogen die Eltern eine Miet- wohnung in Zanow mit einem großen Garten, durch den ein Bach floss. Wurde an warmen Sommertagen mal gefeiert, so wurden die Bierflaschen im Bach gekühlt.
Mutter, deren Familie evangelisch war und die diesen schlichten Glauben ganz in sich aufgenommen hatte, brachte ihrer Ehe ein schweres Opfer: Sie trat zum katholischen Glauben über. Die sonst gute Ehe der Eltern wurde zuweilen dadurch überschattet, daß zwei ältere Schwestern Vaters, Sophie und Elisabeth, immer wieder versuchten, Mutter zu einer ''guten" Katholikin zu erziehen, obwohl Mutter, tief religiös und von einer geradezu rührenden Liebe zu ihren Mitmenschen erfüllt, in meinen Augen immer das Vorbild einer christlichen Frau und Mutter war. Solche Bekehrungs- versuche führten zuweilen zu Auseinandersetzungen. Erst viel später wurde das Verhältnis zwischen Mutter und ihren beiden Schwägerinnen besser, insbesondere zu Sophie.
Nur ein Beispiel für Mutters Herzensgüte: Kurz nach Beginn des ersten Weltkrieges hatte die russische Armee Teile Ostpreußens besetzt. Viele Menschen mußten Hals über Kopf fliehen, es fehlte ihnen oft das Notwen- digste. Auch in Pommern wurde zu Hilfeleistung aufgerufen. Als meine Schwester und ich vom Camminer Markt, unserem Spielplatz, in die elter- liche Wohnung zurückkehrten, zog Mutter uns auf der Straße Schuhe und Strümpfe aus und gab sie zusammen mit vielen anderen Kleidungsstü- cken und Schuhen den Flüchtlingen, um diesen armen Menschen zu hel- fen. Daß sich hierdurch auch ein fühlbarer Mangel bei uns ergab, der nur schwer zu ersetzen war, machte ihr nichts aus.
"Gott gibt dem, der gar nichts hat".
In Zanow verlebten die Eltern glückliche Jahre.
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Maria Meyer ca. 1914, 7 1⁄2 Jahre alt MM05d
Ihr ältestes Kind
Maria wurde dort am 5. Dezember 1906 geboren.
Die Eltern wanderten viel, und in den Sommerferien ging es regelmäßig nach Laase.
Vater hatte in Laase - es mag um 1901 herum gewesen sein - ein altes als Strandgut angetriebenes Boot ersteigert, es mit Segeln versehen und schipperte und angelte viel in den Ferien.
Das Boot war zwar nicht groß, es bot aber 6 bis 8 Personen Platz. Da es aus starken Eichenplanken ge- baut war und einen durchgehenden Kiel hatte, war es bei schwachem Wind langsam
und beim Manövrieren schwerfällig, bei hartem Wind aber stabil und widerstandsfähig. In den zwanziger Jahren war es bei einer Bä- derregatta in West-Dievenow das absolut
langsamste Boot, und am spä- ten Abend begaben sich Schiedsrichter, Kurkapelle und zahlreiche Zu- schauer auf die Zielbrücke, um meine Schwester und mich, die das Boot segelten,
gebührend zu feiern. Wir mußten diese "Ehrung" über uns erge- hen lassen, wenn auch mit gemischten Gefühlen.
An den Sonn- und Feiertagen besuchten die Eltern, wie vor dem Vater allein, den Gottesdienst in Cöslin, da dort die nächstgelegene katholische Kirche war. Auf dieser etwa 10 km langen Wegstrecke war es mit öffentli- chen Verkehrsmitteln schwach bestellt, denn die Eltern gingen regelmäßig zu Fuß.
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Der Weg führte über den Gollen, ein mit weiten dichten Wäldern bestan- dener Berg. Bei einem solchen Kirchgang begegneten sie im Wald Wilde- rern und wurden von ihnen mit einem Gewehr bedroht. Erst als einer von ihnen dem Gewehrträger die Waffe aus der Hand schlug und sich ener- gisch für Vater einsetzte, der ihm verschiedentlich mit Rat und Tat gehol- fen hatte, konnten die Eltern ihren Weg fortsetzen. Mutter war bei diesem Vorfall aufgeregt, Vater aber blieb ruhig und unbewegt.
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Etwa 1907 wurde Vater auf seinen Antrag als "Erster Gerichtsschreiber" an das Amtsgericht Cammin in Pommern versetzt.
Es war eine fast 6000 Einwohner zählende altertümliche Kleinstadt, auf einer hügeligen Halbinsel des Camminer Bodden gelegen. Der Bodden war ein etwa 5 x 10 km großer
Strandsee, zu dem sich die Dievenow vor ihrer Einmündung in die Ostsee erweiterte.
Cammin, deutsch bis 1945 (Darstellung nach Norden ausgerichtet)
Gut zu sehen ist die Alte Badeanstalt im Osten, zeitweise im Besitz von Max Meyer.
R (im Park Stadtmitte auf einem kleinen Hügel) ist die kath. Kirche. (in der Maria und Hans vH am 24.12.1931 katholisch getraut wurden)
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H am Marktplatz hatten sie
gewohnt.
Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Kamien Pomorski Google Earth 2017
Links unten kann man die alte Badeanstalt erahnen.
Heute hat es einen neuen großen Yachthafen im Norden unweit des Rathausplatzes.
Die katholische Kirche ist heute so stark von Bäumen umgeben, dass man sie hier im Wald gar nicht erkennen kann.
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Cammin in Pommern 1941
Kamien Pomorsky heute
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Abgesehen davon, daß mit dieser Versetzung eine ganz nette finanzielle Aufbesserung verbunden war, bot Cammin durch zwei höhere Schulen, dem, verglichen mit Zanow mehr städtischen Charakter und der besseren Verkehrslage erhebliche Vorzüge.
Bahnhof mit elektrischen Zügen (Elektrischer Bahnverkehr, das ist Kommunismus, so steht es heute noch am Bahnhofsgebäude)
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Kamien Pomorski heute
Neuer Yachthafen
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Marktplatz im Frühjahr 2015
Leben Martha (*1880) und Max Meyer
(*1867) bis 1945
Blick vom Marktplatz auf den großen Steg und Camminer Bodden
Am Markt wurde im ersten Stockwerk eines alten Kaufmannshauses eine geräumige Wohnung gemietet.
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Kamien Pommorski 2015, Altes Gasthaus am Marktplatz
Von der breiten Vorderfront übersah man den Marktplatz mit dem im 14. Jahrhundert erbauten prächtigen Rathaus und vier Straßen, die in Form eines Schiffes, den größten Teil der Altstadt umfassten. Seit langem war diese Wohnung offenbar für einen Königlich Preußischen Amtsgerichts- sekretär vorgesehen, denn 1882 wurde dort auch meine Schwiegermutter, deren Vater eben diesen Beruf ausübte, geboren.
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Einfache Wohnhäuser, auch das ist wohl Kommunismus.
In dieser Wohnung kamen als weitere Kinder der Eltern zur Welt:
Otto am 24. Juni 1909 (zweites Kind)
Otto als Kind Ehefrau Hilde und Otto
Otto, Hilde, unbekannt
Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
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Franz am 15. August 1911 (drittes Kind)
Franz als Kind 1914 Franz als Bergmann 1946
Franz in Gesellschaft (genaueres unbekannt) Franz
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Wilhelm am 16. Juli 1915 (viertes Kind)
Wilhelm in SS Uniform, gefallen 1941 Frau Ilse, Tochter Hedda
während das jüngste Kind,
Ulrich, am 14. November 1919 (fünftes Kind) (Leider bisher kein Photo verfügbar)
in einer neuen Wohnung geboren wurde.
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Vielleicht hatte Vater seine Versetzung nach Cammin auch im Hinblick auf die großzügige Familienplanung betrieben, vielleicht auch, weil er seine Schwiegermutter in den Haushalt aufgenommen hatte. Hierzu war eine größere Wohnung nötig, die wahrscheinlich in Zanow nicht zu beschaffen war.
Otto, Franz und Maria ca. 1912 MM06
MM05
Familie Meyer auf dem Land im Garten ca. 1912
Vater Max (45), Mutter Martha (32) mit Baby Franz (< 12 Monate), Maria (5), Oma Marie Redmer (68), geb. Damerow mit Otto (3) ihrem Liebling
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Vater Max, Mutter Martha, Oma Marie Redmer, Maria mit Franz und Otto, ca. 1912 MM03
Es gab zwar auch in Cammin einige Sorgen für die Eltern.
Da waren die gelegentlichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden ältesten Schwestern Vaters mit der Mutter.
Mutter erlitt auch eine Fehlgeburt. Für das Elternhaus Vaters war eine ziemliche Schuldenlast zu tilgen, die letzte Rate wurde 1914 bezahlt. Schließlich hatte Vater den Anlass dazu
gegeben, daß seine Schwieger- mutter - es mag um 1917 herum gewesen sein - zum katholischen Glau- ben übertrat, was ihm von Mutters Geschwistern, die alle evangelisch wa- ren, aus
verständlichen Gründen, übelgenommen wurde. „Jetzt hat er auch noch die Seele unserer Mutter gefangen". Aber all dies hatte keine ernsthaften Auswirkungen auf die gute Ehe, die die
Eltern führten. Und in welcher Ehe gibt es nur Sonnentage?
Beim Umzug nach Cammin wurde natürlich auch das Segelboot, unser "Kleinchen" mitgenommen. Vater kaufte die alte Badeanstalt, die als ziem- lich großer Pfahlbau in der etwa 1 km breiten Mündung der "Kleinen Die- venow" in den Kamminer Bodden gegenüber der Insel Gristow lag und von der Landseite über einen Laufsteg zu erreichen war.
Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
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MM08 8.8.1926 MM09
Das große Badebecken wurde ein Bootshafen, erhielt eine Ausfahrt mit einer kleinen Mole; die Umkleidekabinen dienten nun zur Aufbewahrung der Segel-, Angel- und Badesachen, und im Winter wurden die Boote da- rin verwahrt. Der Sprungturm und die beiden Liegeterrassen konnten ihren bisherigen Zwecken weiter dienen. All dies und die landschaftlich schöne Lage machten diesen Pfahlbau zu einem einmalig schönen Ferienpara- dies. Hier lernten wir Kinder frühzeitig rudern, segeln, schwimmen und an- geln.
Spandau, den 30.6.1926
Das Segeln als Weg zu Kraft und Schönheit
Hoch auf dem Mastholz kletterte Gründler wie ein „Guloz“ um die Gardinen
x y ;
besonders wir Hochschüler, bedarf er nicht,
wie so vielen anderen
um sich dann lassen zu belehren
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
MM11
Neben dem "großen” Segelboot schaffte Vater noch ein kleines Schwert- boot mit Lateinsegeln (also ohne Fock) an, das leicht zu handhaben war. Schon als kleine Kinder durften wir mit diesem Bötchen weit auf den Bod- den hinausfahren, während Vater meistens im Bootshafen blieb, dort las oder angelte, uns dabei aber im Auge hielt. Sein lautes "Hafen Ahoi" war für uns der Befehl, fehl, schleunigst den Hafen aufzusuchen. Noch heute denke ich mit Vergnügen und Dankbarkeit an die Bootshafentage.
MM01
Maria Meyer (5) auf dem Steg
Leben Martha (*1880) und Max Meyer
(*1867) bis 1945
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Der Schwan darf sich baden im Freien, Die Hochschülerinnen müssen sich dazu einen Bretterkasten leihen
Der Bootshafen wurde auch von Gästen mitbenutzt, die ihre Boote dort festmachten und an den Freuden dieses Wasserparadieses teilnahmen. Zu ihnen gehörte eine Pastorenfamilie Scheibert aus der Gegend von Greifenberg, die ihre Sommerferien regelmäßig nach Art der Steinzeit- menschen im Pfahlbau verlebten. Ich erinnere mich noch an die schmucke Segeljolle, an ein Aquarium, in dem die geangelten Fische schwammen, und an Ölbilder und Aquarelle des Pastors Scheibert.
In den Kriegsjahren und den ersten Nachkriegsjahren war unser Beam- tenhaushalt ziemlich mager. Der Bootshafen mußte an einen Bauern auf der Insel Gristow auf Abbruch verkauft werden, wobei Vater entgegen sei- ner Veranlagung kaufmännisches Geschick entwickelte. Das Restkauf- geld wurde nämlich in wertbeständiger Roggenwährung bezahlt.
In den Pfingst- und Sommerferien zogen wir in ein schilfgedecktes Häus- chen in Ost-Dievenow, ein auf der schmalen Landzunge zwischen dem Dievenow-Strom und der Ostsee gelegenes idyllisches Fischerdorf. Vater kam, wenn er keine Ferien hatte, regelmäßig mit dem Segelboot zu uns. Das war nicht immer einfach, denn der Hin- und Rückweg betrug immerhin etwa 24 km. Waren die Wind- und Stromverhältnisse ungünstig, so mußte Vater kräftig rudern. Wir badeten in dem damals noch klaren Wasser der Ostsee, angelten an der Dievenow-Mündung, segelten, ruderten und streiften in den Dünen und kleinen Waldungen umher.
Familie Meyer an der Ostsee, die Eltern Martha (34) und Max (47) Otto (5), Maria (7) und Franz (3), geschätzt ca. 1914 MM04
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Bei Kälteeinbrüchen, und diese waren nicht selten, wurde der altertümli- che Kaminofen mit Kienäpfeln und Strandholz geheizt. Als kleines Kind schlüpfte ich dann zuweilen unter den weiten Rock meiner Großmutter, deren Liebling ich wohl war.
Anfang August 1914 waren Mutter und wir Kinder Zeugen eines aufregen- den Vorfalls. Vater setzte mit dem Segelboot auf das Westufer der Die- venow über, um dort zu angeln. Wegen der starken Strömung und der hohen Dünung fuhr er alleine, wir standen am Ostufer des etwa 150 m breiten Mündungsstromes. Nun hatte der Landsturm die Mündung besetzt und zum Schutz gegen ein Eindringen feindlicher Schiffe eine Stahltrosse unmittelbar unter der Wasseroberfläche über den Strom gespannt. Vater bemerkte dies erst, als das Seil zwischen Boot und Steuerruder geriet und sich dort festklammerte. Das Boot schaukelte. Das Boot schaukelte in der hohen Dünung sehr stark. Aufschrei bei uns, Fluchen bei den Landsturm- soldaten und ein etwas verlegenes Schimpfen Vaters waren die ersten Folgen. Erst nach Stunden wurde Vater aus seiner misslichen Lage be- freit.
Max, Martha, unbekannt, Otto, Maria und Baby Franz ca. 1912 MM02
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Oft segelten wir auf dem Fritzower See, der die letzte Ausbuchtung der Dievenow vor ihrer Mündung bildete. Vater ließ einen Gast ans Ruder, der so unglücklich manövrierte, daß unser Boot kenterte. Wir wurden an Bord anderer Boote genommen und kehrten durchnäßt und frierend in un- ser Fischerhäuschen zurück.
An diese beiden Vorfälle erinnert sich Vater nur höchst ungern; seine Liebe zur Segelei wurde hierdurch aber nicht beeinträchtigt. Mutter betei- ligte sich danach aber nur noch selben an unseren Segelfahrten und be- nutzte lieber den Dampfer.
Für uns Kinder waren Segelfahrten sehr beliebt. Bei ruhigem Wetter lag Vater oft unten im Boot, und wir steuerten es. Wichen wir vom Kurs ab, so korrigierte uns Vater, ohne seine Haltung zu verändern. Zuerst konnten wir uns dies nicht erklären, denn sein Blick war stets nach hinten gerichtet. Aber später kämmen wir hinter diesen Trick: Vater visierte ein achtern ge- legenes Hilfsziel an.
Bei ruhiger See schwamm Vater oft in seinem durch sein Beinleiden ge- prägten Stil - eine Art Crowlen- neben dem Boot her. Er war ein guter und ausdauernder Schwimmer, mußte aber später wegen seines Gichtleidens auf kaltes Baden verzichten. Wir angelten viel. Die oft zahlreichen Fische, die wir erbeuteten, waren zwar meistens ziemlich klein, gebraten schmeckten sie aber ganz vorzüglich.
Segelvergnügen mit Pick-Nick MM07
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Das zeitraubende Schaben und Ausnehmen der Beute besorgten wir Kin- der, da Mutter hierfür beim besten Willen keine Zeit hatte. Einen Angel- schein hatten wir nicht, aber nie kämmen wir mit dem staatlichen Fischer- meister in Konflikt.
Die damalige Zeit war noch nicht so kompliziert wie die heutige.
Ein beliebtes Ziel unserer Segelfahrten war die Dievenow-Mündung. Bei ausgehendem Strom gab es meistens eine reiche Angelbeute, bei einge- hendem Strom sprangen wir unter der Aufsicht Vaters von den hohen Pfählen der Mole in die klare und dort tiefe Ostsee. Danach schmeckte das Essen aus der Wärmekiste besonders gut. Auch auf der Rückfahrt war für Essen und Trinken gesorgt. Das war gut, denn oft mußte der 12 km lange Weg rudernd und gegen Strom und schwachen Wind zurückge- legt werden.
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Die kleine Insel Burgwall in der Maade (links unten) und Brücke ahoi ! (rechts oben)
Ein weiteres Ziel unserer Segelausflüge war der ''Burgwall“. Das ist eine einsam gelegene Insel von vielleicht 150 m Durchmesser in der "Maade", einer etwa 3 x 4- km großen Erweiterung der Dievenow, oberhalb der Insel Gristow. Der Burgwall war mit einem wahren Urwald bestanden, und man konnte sie durch das Gestrüpp nur mit viel Mühe durchkämpfen. Vor mehr als 1000 Jahren soll die Insel den Wenden als Zuflucht vor den Wikingern gedient haben. Ich möchte aber annehmen, daß sie umgekehrt den Wi- kingern zur Sicherung des Wasserweges von Jumnin (später Wollin) zur Mündung der Dievenow diente. Schon das Passieren der Brücke, die das Festland mit der Insel Gristow verband, war ein Vergnügen. "Brücke ahoi" schrien wir aus vollem Halse. Dann kam der Brückenwirt er auf seinem alten Fahrrad gemächlich angeschanzelt, sperrte die Fahrbahn, zog die Brücke hoch und reichte uns den Klingelbeutel, der an einer langen Stange befestigt war, zur Entrichtung des Brückenzolls und eines Trink- geldes ins Boot hinunter.
Die Landung auf der Insel Burgwall aber war für uns stets der Beginn eines echten Robinson-Lebens. Daß es dort wildwachsende Kirschen, Johan- nis- und Stachelbeeren in Hülle und Fülle gab, machte uns den Aufenthalt auf der Insel noch verlockender. Manchmal gab es als Jagdbeute auch einige junge Saatkrähen, die bei dem alljährlichen Krähenmorden ange- schossen wurden. Sie schmeckten wie junge Tauben.
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MM12 MM13
Maria Meyer ? Kein Segeln ohne Knoten
In dem über uns gelegenen Stockwerk unserer Camminer Wohnung wohnten drei ältere ledige Schwestern namens Tetzlaff, die aus einer vor- nehmen Kaufmannsfamilie stammten. Der Milchmann füllte allmorgend- lich den Milchtopf, den diese Damen auf die Stufen der Rundtreppe stell- ten, die von ihrer Wohnung zürn Bodenspeicher hinaufführte. Eines Mor- gens fanden die Damen in der Milch einen ausgewachsenen Regenwurm, und solches wiederholte sich nun des Öfteren. Mal war es ein Wurm, der aus der Frühstücksmilch zum Vorschein kam, dann waren es mehrere. Der Milchtopf wurde beobachtet, der Milchausträger und alle verdächtigen Kinder wurden verhört, aber umsonst. Aber eines Tages stellten die Da- men eine ansehnliche Prozession von Regenwürmern fest, die sich die Treppenstufen in Richtung Milchtopf herabfallen ließen. Sie kamen vom Bodenspeicher aus einem alten Eimer, in dem Vater die Tierchen mit Kaf- feesatz, Humuserde und Graswurzeln fütterte, um sie als Köder zum An- geln zu verwenden. Ein Entschuldigungsversuch und Schadenersatz wa- ren fällig. Wo Vater danach seine Angelwürmer hielt, weiß ich nicht mehr.
Etwa 1918/1919 bezogen wir eine Wohnung in einem neuen Sechsfamili- enhaus am Rande der Stadt, das von einer Baugenossenschaft errichtet war, deren Gründer und Vorsitzender Vater war. Die Wohnung war geräu- mig, umfasste fünf Zimmer und ein Badezimmer, auch ein schöner Garten war vorhanden.
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In dieser Zeit (am 19.10.1918) starb Großmutter Marie Redmer (*7.10.1844 in Barken) geb. Damerow im Alter von 74 Jahren, und hier wurde am 14. November 1919 das jüngste Kind Ulrich geboren.
1912
In den Kriegs- und in den ersten Nachkriegsjahren war es mit unserer Ver- pflegung nicht allzu reichlich bestellt. Die Eltern
gaben uns Kindern mehr, als uns zustand.
Reichten wir ihnen bei Tisch etwas zu, so lehnten sie ab, sie wären schon gesättigt. Erst viel Später konnte ich manchen Blick deuten, den sie über den Tisch warfen: Sie hatten
Hunger. Aber der Mangel bei uns war sicher- lich viel geringer als in den Großstädten.
Eines Tages - wohl so um 1919 herum - brachte Vater, der nebenamtlich des Gerichtsgefängnis zu versehen hatte, ein Suppengemisch als Kost- probe mit. Es wurde gekocht, schmeckte aber abscheulich. Die armen Ge- fangenen, die Derartiges essen mussten!
Da war das mit dem Hasen doch eine andere Sache. Ich entdeckte ihn, am Fenster von Vaters Büro hängend, mit einem großen Stück Speck am Maul. Vater sagte mir schmunzelnd, das wäre ein Speckhase, dem der zum Spicken nötige Speck ans Maul gewachsen wäre. Ich war davon fest überzeugt. Von diesem Hasen träumte ich noch, als ich 1945 krank im Gefangenenlager lag und fürchterlichen Hunger hatte.
Oder eine Graugans, die im Herbst 1918 mit gebrochenem Flügel im Strandwalde bei Kalkberg von uns aufgestöbert wurde, von Vater ge- schlachtet und im Rucksack versteckt wurde. Schlimm schien die Sache auszugehen, als die Jagdhunde der Försterei und Gastwirtschaft, wo wir die Beute mit Kaffee feierten, dem Rucksack ihre sehr auffallende Auf- merksamkeit schenkten. Wir versuchten vergeblich, die Hunde abzulen- ken, schließlich mußten wir eilig fliehen. Einige Male erhielten wir von ei- nem Schäfer ein Schaf, das sich überfressen hatte und das daher
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notgeschlachtet werden mußte. Dann war bei uns Fettlebe. So gab es auch in den mageren Kriegsjahren manchmal Leckerbissen bei uns, auch wenn es sich nur um Pilze oder geangelte Fischlein handelte.
Regelmäßiger Gast war bei uns der jeweilige katholische Geistliche. Hier- über möchte ich einiges erzählen.
In Cammin residierte um 1200 herum der Bischof für Pommern und für Teile von Brandenburg und Mecklenburg. Der Dom, ein schöner gotischer Backsteinbau mit einem romantischen
Kreuzgang, um 1175 herum er- baut, sowie einige schöne alte Häuser im Domviertel erinnerten damals noch daran. Die Residenz des Bischofs wurde 1255 nach Kolberg verlegt, und seit
der Reformationszeit waren Cammin und Umgebung rein evan- gelisch.
Nach meiner Erinnerung gab es zu Beginn des ersten Weltkrieges in Cam- min außer uns noch drei katholische Familien:
Fojuth (Lokomotivführer),
Majewsky (Gerichtswachtmeister) und
Maiwald (Schornsteinfeger).
Für die Sommermonate kamen außer Badegästen noch ziemlich viele Wanderarbeiter hinzu, die im Herbst nach Polen zurückkehrten. Katholi- scher Gottesdienst wurde nur dann und wann in Cammin abgehalten, teils in der Gastwirtschaft Buntrock, teils im Sitzungssaal des Amtsgerichts. Die nächsten Pfarreien waren in Kolberg und in Swinemünde. Die Bunt- rock ́sche Wirtschaft wurde während des Krieges abgerissen. Die Benut- zung des Sitzungssaales wurde verboten. Gegen Vater wurde wegen För- derung des Polentums in dem völlig deutschen Pommern ein förmliches Disziplinarverfahren eingeleitet, das aber mit seinem Freispruch endete.
Kleine katholische Kapelle in Cammin Dom bis 1945 Evangelisch heute Polnisch und Katholisch
Vater strebte daher einen regelmäßigen katholischen Gottesdienst in
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Cammin an. Seine Bemühungen hatten schließlich Erfolg.
Eine kleine katholische Kapelle wurde um 1920 herum in Cammin er- richtet, es folgte der Bau eines danebenliegenden Wohnhauses für den Geistlichen.
Kath. Kirche in den 1930ern und 2015
Als Verwalter der neu gegründeten Kuratie kamen teils Missionare aus überseeischen Missionen, teils aber auch solche Priester nach Cammin, die Fehler im Dienst begangen hatten und sie mm abbüßen sollten. Es war wirklich ein hartes Dasein, das sie fristeten. War es schon finanziell mehr als schlecht mit ihnen bestellt - sie erhielten ein ganz geringes Ge- halt, das aus freiwilligen Spenden aufgebracht wurde -, so lebten sie iso- liert und ohne Anschluss an die überwiegend evangelische Bevölkerung. Ihnen blieb daher nur der Umgang mit den wenigen Katholiken des Ortes und die Erfüllung ihrer Pflichten eines Priesters.
So kam es, daß der jeweilige Kuratus an den Sonn- und Feiertagen ziem- lich regelmäßig und darüber hinaus bei uns zu Gast war. Hinzu kamen oft Kirchenbesucher von auswärts, die Vater gerne zum Mittagessen einlud. Das war für Mutter, die ohnehin mit Arbeit gut eingedeckt war, auch im Hinblick auf die nötige Beschaffung von Lebensmitteln, gewiss keine leichte Aufgabe, zumal sie am Sonntagvormittag regelmäßig das Hochamt besuchte.
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Einige Geschichten sind mit noch in Erinnerung:
So begleitete ich einmal unseren Kurator bei einem Besuch seiner Schäf- lein auf dem Lande, der aber auch dazu dienen sollte, seinen Vorrat an Lebensmitteln etwas aufzufrischen. Er war ein großer starker Mann in den besten Jahren, und trotz der schweren Zeiten konnte er ein stattliches Bäuchlein sein Eigen nennen. Unser Weg führte an einer Windmühle vor- bei, bei der ein großer, langhörniger Ziegenbock weidete. Hochwürden ging auf meine ängstliche Bitte, diese gefährliche Zone zu meiden, wegen des damit verbundenen Umweges nicht ein, sondern schritt tapfer auf den Ziegenbock zu. Dieser attackierte den geistlichen Herrn sogleich stür- misch. Im Verlaufe des Gefechts verwickelten sich die Beine unseres Pfar- rers in dem langen Seil, an dem der Ziegenbock angebunden war. Er stürzte und bildete bald mit dem Seil und dem Ziegenbock ein sich im Grase wälzendes Knäuel. Der pfiffige Müller hatte nichts Besseres zu tun, als die Windmühle in Gang zu setzen, so daß wir drei armen Geschöpfe alle Mühe hatten, uns vor den sich immer schneller drehenden Windmüh- lenflügeln zu schützen. Der Müller befreite uns erst aus dieser Lage, nach- dem wir einige tüchtige Beulen und Schrammen bezogen hatten.
Ein andermal borgte sich Hochwürden Vaters Segelboot, um in West-Die- venow eine Messe zu lesen« Obwohl er vom Segeln keine Ahnung hatte und ungeachtet der Warnungen Vaters begab er sich auf die 10 km lange Reise. Die Hinfahrt ging gut, begünstigt von Rückenwind und schieben- dem Strom. Bei der Rückfahrt am Abend war der Wind eingeschlafen, und das Boot konnte gegen den Strom nur durch kräftiges Rudern bewegt wer- den. Das aber war mühsam und anstrengend. Des Ruderns müde, entle- digte sich Hochwürden seiner Hosen und schob das Boot dicht neben der ausgebaggerten Fahrrinne in dem nur knietiefen Wasser vor sich hin. Die milde Abendsonne beleuchtete das stattliche, runde Hinterteil unseres hochwürdigen Herrn freundlich, und keines Menschen Auge störte dieses liebliche Bild. Nun hatte just an diesem Tage der Camminer Gesangverein einen Dampferausflug mit Damen nach Dievenow veranstaltet, und es ging mit Musik und Gesang heimwärts. Als man unser Boot mit dem nicht ganz üblichen menschlichen Motor sichtete, wurde es still auf dem Damp- fer. Passagiere und Besatzung betrachteten vergnüglich das ungewöhnli- che Bild, das sich ihnen bot. Der Kapitän des Dampfers beschleunigte die Fahrt. Als der Dampfer die Höhe des Bootes erreicht hatte, die hohe Bug- welle Hochwürdens Hinterteil überrollte und gleichzeitig mit dem ins Schaukeln geratene Boot einen lustigen Tanz veranstaltete, spielte die Bordkapelle einen Tusch, das Nebelhorn des Dampfers erklang laut dazu und eindrucksvoll, und alles schrie und klatschte voller Begeisterung. Seit- dem verzichtete Hochwürden darauf, Segelfahrten in eigener Regie zu un- ternehmen.
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Das Harmonium in der katholischen Kapelle spielte Vater leidlich gut, obwohl seine gichtgeplagten Finger mit
zunehmendem Alter immer mehr an Beweglichkeit einbüßten.
Zur mitternächtlichen Christmette machten wir uns gemeinsam
auf den Weg; wir begleiteten dann Vaters Harmoniumspiel mit unseren Violinen, so gut wir es konnten.
Dabei nahmen wir auch unsere Weihnachtskrippe mit, die mit ihren schö- nen großen Figuren im Kirchlein aufgestellt wurden. Besonders in Erinne- rung sind mir noch das Kind in der Krippe, der Ochs und der Esel, die, der ursprünglichen Krippendarstellung gemäß, stets eine besondere Gruppe bildeten.
Cammin auch Kammin (links mitte) und Zanow (westlich von Cöslin), Geburtsort von Maria Meyer (5.12.1906),
Podejuch (südlich von Stettin) letzter Wohnort von Martha und Max
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Vater genoss den Ruf eines begabten, tüchtigen und fleißigen Beam- ten, und bei der Bevölkerung war er wegen
seiner Hilfsbereitschaft allgemein beliebt.
Aber so ganz wohl fühlte er sich bei Kriegsende in seinem Beruf nicht
mehr. Der im Justizdienst überentwickelte Formalismus, zu schablonen- haftem Denken verleitend, die strenge Abgrenzung seiner Tätigkeit und das stark ausgeprägte Vorgesetzten -
Verhältnis waren ein zu enger und starrer Rahmen für ihn.
Es kam zuweilen zu kräftigen Kontroversen mit seinen Vorgesetzten. Trotzdem wurde Vater 1918, verhältnismäßig frühzeitig, als einer der letz- ten Beamten seiner Gruppe, zum Rechnungsrat ernannt. Der Preußische Staat verlieh damals seinen altgedienten bewährten Beamten derartige Titel. Hierdurch ersparte er die mit den später üblichen Beförderungen ver- bundenen Geldausgaben.
Kurz danach ließ Vater sich vorzeitig pensionieren. Ein Sturz von der ver- eisten Steintreppe des Amtsgerichts, dem ein langes
Krankenlager folgte, bot einen willkommenen Anlass hierzu.
Aber Vater war für den Ruhestand noch zu unternehmungslustig und be- weglich. Er eröffnete ein Büro für Steuer- und Rechtsberatung, wurde Konkursverwalter und Vertrauensperson
für gerichtliche Vergleichsver- fahren und besorgte für eine ganze Anzahl von Gütern die Buchführung. Die hierzu erforderlichen Kenntnisse eignete er sich als Autodidakt
an.
Bis in die späten Abendstunden las er Fachbücher. So bereiteten ihm die Zulassungsprüfungen keine nennenswerten
Schwierigkeiten. Der Betrieb wuchs rasch, und bald mußten mehrere Bürokräfte eingestellt werden.
In der Inflationszeit halfen wir Kinder oft beim Zählen der von Vaters Kun- den an das Finanzamt abzuliefernden Steuergelder. Ein großer Tisch war zuweilen mit Geldscheinen bedeckt,
die am nächsten Morgen zum Fi- nanzamt wunderten.
Auch ein früherer Gutsverwalter war im Büro beschäftigt.
Sein Dienstverhältnis endete, nachdem er die für die Kundschaft zu ver- wendenden Beitragsmarken für die Rentenversicherung halbiert auf die Rentenkarten geklebt und sich die
andere Hälfte der Beiträge in die eigene Tasche gesteckt hatte.
Dann wurde der erste Mann im Büro von einem tollen Hund gebissen. Er mußte sofort, mit dem Schädel des Hundes im Koffer, nach Berlin zur Imp- fung fahren. Die Sache ging gut
aus.
Später benutzte Vaters häufige Krankheiten dazu, auf eigene Rechnung die Kundschaft zu bereisen. Dies führte zu Unzuträglichkeiten. Die Sache wurde dadurch bereinigt, daß er seine
Anstellung als Lehrer erhielt und daher ohnehin ausscheiden mußte.
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Im Jahre 1923 wurde der Wert der Mark immer geringer; die Inflation ga- loppierte. Zu dieser Zeit errichtete der Kreislandbund, eine wirtschaftliche Vereinigung der bäuerlichen und Großgrundbesitzer, in den einzelnen Landkreisen Wirtschaftsberatungs- und Buchführungsstellen. Man bot Va- ter an, sich entweder als zweiter Mann übernehmen zu lassen - der Leiter sollte Diplom-Volkswirt Dr. Höhne werden-, oder den Buchführungs- und Beratungsdienst an dem Landbund zu verkaufen. Vater entschied sich für die zweite Möglichkeit; er wollte selbständig bleiben. In dem Übergabe- vertrag wurde vereinbart, daß der nicht bar zu zahlende Verkaufserlös nach dem jeweiligen Wert einer ganz netten Zahl von Zentnern Roggen, also wertbeständig, zu zahlen war.
Dies wirkte sich auf unsere Finanzen günstig aus.
Dann, als bei der Währungsreform, nach meiner Erinnerung war es der 1.12.1923 - der Wert der neuen Rentenmark, später Reichsmark - im Ver- hältnis von einer Billion (Altwährung)
zu eins (Neuwährung) festgesetzt wurde, hatte Vater mit dem wertbeständigen Restkaufgeld einen guten Fonds zum Start in die Festwährung. Dies war wohl die beste kaufmänni- sche
Leistung Vaters in eigener Sache.
Vater betätigte sich weiter als Rechts- und Steuerberater, daneben als Konkurs- und Nachlassverwalter sowie als Treuhänder in gerichtlichen Vergleichsverfahren. Auch der verkleinerte Betrieb lief gut an. Viele Kun- den kamen zu ihm, und oft war er auf Reisen. Dann führ er um sechs Uhr früh mit der Bahn los oder wurde mit dem Pferdefuhrwerk seiner Kund- schaft abgeholt. Kam er abends - oft erst nach einigen Tagen - wieder nach Hause, dann klapperte die kleine Schreibmaschine bis in den späten Abend hinein. Sie wurde entweder von Vater oder von uns drei ältesten Kindern bedient. Der Schriftwechsel war ziemlich umfangreich, denn Rechnungsrat Meyer war im Kreis Cammin allgemein bekannt.
Vater hatte oft beim Amtsgericht Cammin zu tun. Zu seiner geraden, auf- rechten Haltung bewegte er sich auf seinem scheppernden und leicht quietschenden Eisengestell freundlich lächeln, vergnügt und sicher auf den knarrenden Dielen der Büros und Gängen des Gerichts. Im Gesund- heitsamt zog er seine alte, mit Silber beschlagene Schnupftabakdose her- vor und bot seinen früheren Mitarbeitern – Justizbüroassistent Wilm und Kanzleisekretär Tews - eine Prise an. Gemütlich wurde der graugrüne Ta- bakstaub durch die Nase eingezogen. "Wohls bekomm ́s, Herr Rech- nungsrat." Bei meiner Ausbildung im Winter 1928/1929 habe ich seine sol- che Zeremonie oft beobachten können. Schnupftabak war Vaters Leiden- schaft, und täglich mußte Mutter ein rundes Dutzend Taschentücher in einer Sonderwäsche behandeln. Viel hat Vater darüber von uns Kindern zu hören bekommen, denn wir wollten ihn durchaus zu einem modernen Menschen machen. Schließlich brachte er es über sich und opferte seinen
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Schnupftabak auf dem Altar seiner Familie. Sir dankten ihm dafür, waren aber ziemlich beschämt. Denn jetzt wurde uns klar, welches Opfer wir ihm zugemutet hatten. Aber Vater blieb dabei: Von Stund ́ an wurde nicht mehr gepriest.
Soweit der Bürobetrieb ihm etwas Zeit ließ, las er Fachbücher, segelte mit uns, und oft wanderten wir mit ihm zum Strand, im Walde oder zu Bekann- ten auf das Land. Noch jetzt wundere ich mich darüber, wie schnell und ausdauernd Vater mit seinem Eisengestell marschieren konnte. Bis zum Anfang der zwanziger Jahre wurden zuweilen auch Ausflüge über den zu- gefrorenen Bodden gemacht. Vater setzte sich auf einen Sitzschlitten, den Mutter Schlittschuhlaufend schob. Bei einem solchen Ausflug wären die Eltern beinahe unter das geborstene Eis geraten, es lief aber gut ab.
Jeden Sonntag und - soweit möglich - auch alltags besuchte Vater die Messe, und wir Brüder dienten als Ministranten. In der Alltagsmesse - sie begann um 7 Uhr früh - war Vater meistens der einzige Besucher, es sei denn, daß eines seiner Kinder dabei war.
Viele Gaste kamen damals zu uns. Alltags waren es meistens Kunden, die, wenn sie lange unterwegs waren, mit Kaffee und einem Imbiss bewir- tet wurden. An den Sonn- und Feiertagen kam nicht nur der katholische Pfarrer, sondern es besuchten uns oft Katholiken, die von außerhalb zum Besuch des Gottesdienstes kamen. So kann ich mich noch an einen ka- tholischen Universitätslehrer aus Breslau erinnern, der die Sommerferien regelmäßig in Dievenow, segelnd und angelnd, verbrachte. Er war bei ei- nem meiner Brüder und bei mir Taufpate.
Von Martini bis Weihnachten gab es fast Jeden Sonntag Gänsebraten und danach zum Kaffee Apfelkuchen mit Schlagsahne.
Die Unterhaltung bei Tisch war meistens angeregt und nett.
Als sich jedoch immer mehr Kirchenbesucher bei uns einfanden, vor allem aus Großstädten, kam es zuweilen zu unliebsamen politischen Auseinan- dersetzungen. Vater, deutschnational bis auf die Knochen, wurde deshalb manchmal von seinen Gästen die durchweg der damaligen Zentrumspar- tei nahestanden, wegen seiner politischen Einstellung heftig angegriffen.
"Nur ein Idiot kann heute noch vaterländisch denken”
sagte mal einer, sehr zu Vaters Leidwesen.
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Ich muß hier einfügen, daß Vater ab 1918 für einige Jahre Kreisgeschäfts- führer der Deutschnationalen Volkspartei war und oft Wahlreden hielt. Ein- mal, es mag um 1919 herum gewesen sein, mußte eine Wahlversamm- lung unter freiem Himmel durchgeführt werden, weil der Gastwirt des Dor- fes sein Lokal bei den zu erwartenden Auseinandersetzungen nicht de- molieren lassen wollte. Etwa 50 Menschen saßen auf aufgestellten Bän- ken im Gutspark, und einige Besucher lagen unter ihnen. Dies war be- denklich.
Als Vater mit seiner Rede beginnen wollte, zogen die Versammelten in geschlossener Formation, Lieder singend, ab. Übrig blieben
nur der Guts- besitzer und sein Inspektor.
Vater fuhr betrübt nach Hause, ohne seine Wahlrede zu halten.
Ein andermal hatte Vater eine Wahlveranstaltung im Hotel „Zum Walfisch“ in Cammin zu leiten. Der Redner trug den Namen Auerhahn, und schon zu Beginn der Veranstaltung gab es verdächtige Dinge. So wurde heftig Bier aus Flaschen getrunken, und die leeren Bierflaschen wurden säuber- lich unter Stühle und Bänke gestellt. Der Redner wurde mit lautem "Kike- riki" begrüßt, und noch bevor er loslegen konnte, wurde die Bühne ge- stürmt. Die Vorstandsmitglieder, darunter Vater, mußten durch ein Hinter- fenster mit Hilfe von Seilen das Lokal fluchtartig verlassen. Auch von die- ser Versammlung kehrte Vater etwas kleinlaut in den friedlichen Familien- kreis zurück.
Zu gefährlichen Dingen kam es aber damals im friedlichen Städtchen Cammin nicht. Trotzdem zog Vater sich aus dem politischen Leben zu- rück. Mit seinem lahmen Bein und wegen seiner Gicht konnte er sich nicht auf handfeste Auseinandersetzungen einlassen, auch waren seine Tage ohne Politik voll ausgefüllt. Alles schien bei uns gut zu laufen. Aber Mutter war auf die Dauer der allzu großen Arbeitslast, die auf ihr ruhte, nicht ge- wachsen. Der große Haushalt, die Aufregungen und die vielen Menschen, die sich bei uns einfanden, zehrten an ihren Kräften; ihr Gesundheitszu- stand wurde zunehmend schlechter.
Auch um Vaters Gesundheit war es damals nicht gut bestellt. Er wurde häufig von immer heftiger werdenden Gichtanfallen heimgesucht, die ihn oft wochenlang an das Bett fesselten. Dies bekam auch seinem Geschäft schlecht. Manche Dinge wurden mit großer Verspätung erledigt, obwohl Vater sich nach besten Kräften bemühte, auf dem Laufenden zu bleiben.
Auch blieb Vater im Grunde seines Wesens immer mehr Beamter als Ge- schäftsmann. Das wirkte sich so aus, daß er zwar seine Aufgaben meis- tens gut erfüllte, dabei aber weniger seinen persönlichen Gewinn im Auge behielt. Bei einem Beamten kommt nun mal das Gehalt von selbst, wenn er seine Arbeit leistet. Bei den Konkurs- und Vergleichsverfahren ver- suchte Vater stets, den Betrieb des Schuldners zu erhalten. Das ging so
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weit, daß er zur Garantie von Vergleichen persönliche Bürgschaften über- nahm, von denen einige platzten.
So wurde er für eine Bürgschaft, die er für den Besitzer einer Schiffswerft in Wollin übernahm mit mehr als 20 ́000
Reichsmark in Anspruch genom- men.
Auch kostete der Unterhalt der Familie - die Kinder besuchten die höhere Schule - immer mehr. Und die Eltern sorgten dafür, daß wir Kinder immer anständig zu Essen bekamen und
zweckmäßig und möglichst gut geklei- det gingen.
"Wie du kommst gegangen, so wirst du empfangen" sagte Mutter.
Die monatliche Pension der Eltern betrug nach der Gehaltserhöhung 1927 monatlich etwa 450 Reichsmark. Die Folgen von alledem waren Schulden, die langsam aber stetig wuchsen.
Bis etwa 1929 ging es noch einigermaßen gut, und im Oktober des Jah- res feierten wir mit Vaters und Mutters Verwandten die silberne Hochzeit in einem Hotel in Misdroy, deren Kosten auf Vaters Honorar als Ver- gleichstreuhänder verrechnet wurden. Es war ein schönes und gemütli- ches Familientreffen, und ich bin meiner Mutter heute noch dankbar dafür, daß auch Hilde Kranz, meine spätere Frau, dabei war.
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Die Pleite im Elternhaus konnte zwar noch hinausgezögert werden, aber die allgemeine Wirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre machte sie un- widerruflich. Im Jahre 1932 verluden wir unseren Hausrat in einen Güter- wagen der Bahn und zogen nach Podejuch bei Stettin, wo die Eltern eine geräumige und preiswerte Wohnung gemietet hatten
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Podejuch im Süden von Stettin
Leben Martha (*1880) und Max Meyer
(*1867) bis 1945
Nachdem alle Kinder das elterliche Nest verlassen hatten, zogen die El- tern in eine kleinere Wohnung nahe der Reglitz, die billig, gut und land- schaftlich recht schön gelegen war.
An der Beeg 4
Hier blieben sie. Vater litt schwer unter dieser Entwicklung. Er hätte gerne etwas zu dem nicht pfändbaren Teil der Pension hinzuverdient, aber sein Gichtleiden und der allgemeine Gesundheitszustand ließ dies nicht zu. Aber er ertrug alles mit bewundernswerter Ruhe und Gelassenheit.
Sein Gichtleiden wurde schließlich zu heftig, daß er nicht mehr gehen konnte. Ein Krankenfahrstuhl wurde angeschafft, und so konnte er ausge- fahren werden oder im Krankenstuhl an schönen Plätzen sitzen, etwas lesen und sich mit Nachbarn unterhalten. Über einen Radioapparat, den wir ihm geschenkt hatten, freute er sich besonders, hatte er doch dadurch eine unmittelbare Verbindung mit dem Zeitgeschehen, auch wenn ihm das, was sich damals ereignete, mit wachsender Sorge und Traurigkeit erfüllte.
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Mutter erwies sich besonders in dieser Zeit als seine ideale Lebensgefähr- tin. Von dem zermürbenden Übermaß an Arbeit befreit, widmete sie sich ganz ihm. Sie fuhr ihn regelmäßig zum Gottesdienst und in die reizvolle Umgebung, sorgte für zweckmäßige Ernährung, Unterhielt ihn mit Karten- spielchen und anderem Kurzweil und versuchte alles, um Vater das Leben möglichst angenehm zu gestalten. Daß zum Lebensunterhalt nur noch ein Teil der Pension zur Verfügung stand, machte ihr nichts aus. Sie war mit dem Vorhandenen vollauf zufrieden. Kamen Kinder zu ihnen, so war es für die Eltern ein Fest.
An ein reichhaltiges Mittagessen schloß sich ein guter Kaffee mit dem üblichen Apfelkuchen mit Schlagsahne an
Max Meyer und Gesellschaft 1931/32
Ich kann mich noch daran erinnern, daß 1931/32 des Öfteren arbeitslose Musiker, manchmal kleine Musikkapellen, vor den Wohnhäusern gegen Almosen musizierten und dabei zuweilen Vorzügliches leisteten. Wenn es die Umstände zuließen, luden wir sie zum gemeinsamen Essen ein. Stets waren sie überrascht und erfreut und dankten uns mit einem guten Ge- spräch und mit einem Extrakonzert. Um dies zu verstehen, muß man be- denken, daß damals mehr als ein Drittel aller arbeitenden Menschen ohne Erwerb waren.
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Die Jahre von 1933 bis zum Beginn des Krieges verlebten die Eltern har- monisch und glücklich wie auf einer friedlichen Insel. Sie standen treu zu ihrer Religion, umsorgten sich gegenseitig mit einer wahrhaft rührenden Liebe.
Wenn Kinder kamen, wurde es im Hause lebhaft. Vater hatte dann schon die Karten zum Familienskat gemischt, und Mutter kochte Kaf- fee, sei es auch nur Muckefuck.
Aber zuweilen gelang es doch, ein paar echte Kaffeeböhnchen aufzutrei- ben. Dann war Mutter entzückt, denn Bohnenkaffee war von jeher ihre Leidenschaft. Mein Versuch, mit Vater Schach zu spielen, scheiterte an meinem kläglichen Spiel. Er war mir hoch überlegen, und bald gaben wir es auf.
Mit dem Kriege kamen die Sorgen ins Elternhaus. Alle vier Söhne waren Soldat, und Maria wohnte bei ihrer Familie im bombengefährdeten Berlin. Wilhelm fiel im September 1941 bei Petsamo, und von den drei anderen Söhnen blieben die Eltern lange Zeit ohne Nachricht; Franz und Uli waren im Osten für längere Zeit vermißt. Die Meldungen von den Fronten wurden im Laufe der Kriegsjahre immer schlechter, und schließlich wurde die Hei- mat unmittelbar in das Kriegsgeschehen einbezogen.
Aber die Eltern bewahrten ihre ruhige Haltung und umsorgten und unter- stützten sich gegenseitig. Auch fanden sie bei Glaubensgenossen, Nach- barn und ihren Kindern manchen Anhalt, und ihre religiöse Bindung ließ sie den Blick immer mehr auf das Jenseits richten.
Der Besuch ihrer Kinder war auch jetzt noch stets ein Höhepunkt in ihrem Dasein.
Oft kamen Hilde, unsere Kinder und manchmal auch Tante Hedwig mit den Eltern zusammen, und wenn dann etwas Bohnenkaffee und einfaches Gebäck herbeigeschafft wurde, war das Beisammensein beinahe festlich.
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Im Herbst 1944 sah ich Vater zum letzten Male. Er wirkte ruhig, ausge- glichen und beinahe fröhlich. Über das Schwere, das schon geschehen und noch vorauszusehen war, verlor er kein Wort der Klage. Wir unterhiel- ten uns viel über Vergangenes. Beim Abschied sagte Vater lächelnd und in aller Ruhe, daß seine Zeit nun abgelaufen wäre und wir uns nicht mehr Wiedersehen würden. Wir, seine Kinder und Enkelkinder, sollten unsere Sache gut machen.
Im Januar 1945 starb Vater in den Armen seiner Lebensgefährtin. Sie hielt seinen erkalteten Körper noch lange umschlossen. Vater sollte leicht und ohne Klagen erschreckt in das Jenseits hinübergleiten.
Ende Februar 1945 stand ich lange an Vaters Grab. Ich konnte weit über das Odertal sehen, und in Gedanken durchlebte ich manchen Abschnitt meines gemeinsamen Lebens mit den Eltern. Vater war manchmal jäh- zornig und gegenüber Menschen, die ihm ihren Willen aufzwingen wollten, voller Trotz und Unnachgiebigkeit. Seiner religiösen und vaterländischen Gesinnung ist er sein ganzes Leben treu geblieben.
Seiner Familie wollte er all das vermitteln, nach dem er sein ganzes Leben gestrebt hatte. Sicherlich war er darüber betrübt, daß die religiöse Ent- fremdung als allgemeine Zeiterscheinung auch seine Kinder berührte. Aber eine Klage darüber habe ich von ihm nicht gehört. Einmal sagte er mir:
„Diese Dinge muß jeder mit sich selbst abmachen und versuchen, durch Nachdenken zu einer ihm gemäßen Lösung zu kommen“.
Kurz danach nahm ich Abschied von Mutter, Hilde und den Kindern. Als ich in den Zug stieg und sie zurückließ, überfiel mich die Angst vor einer grauenvollen Zukunft dieser Menschen. Meine Abfahrt war das trau- rigste Ereignis in meinem Leben.
Mutter ist seit der Besetzung Podejuchs verschollen, und über ihre letzten Stunden habe ich nie etwas erfahren können.
Hilde mußte mit den Kindern einen langen und gefahrvollen Weg gehen, bevor sie ihr Leben wieder menschlicher gestalten konnte.
(Trauriges) Ende
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
Traurig, ja !
Wir haben aber Maria Meyer und ihrer Herkunft viel Gutes zu verdanken:
„Kamen Kinder zu ihnen, so war es für die Eltern ein Fest.
An ein reichhaltiges Mittagessen schloß sich ein guter Kaffee mit dem üblichen Apfelkuchen mit Schlagsahne an
Wenn Kinder kamen, wurde es im Hause lebhaft. Vater hatte dann schon die Karten zum Familienskat gemischt, und Mutter kochte Kaffee, sei es auch nur Muckefuck.
Der Besuch ihrer Kinder
war auch jetzt noch stets ein Höhepunkt in ihrem Dasein.“
Gastfreundschaft
Gitarre spielen und Lieder singen Stricken
Fröhlichkeit
Maria Meyer (im Kreis mit ihren Schülerinnen) „Omi“ wie wir sie kannten und schätzen
MM14
Die Gastfreundschaft und der Familienzusammenhalt sind heute 2018 immer noch üblich bei Ihren zahlreichen Nachkommen !
Vielen Dank dafür !
Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
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Schulausflug in den Harz 1951 MM15 Leider haben wir aber auch die krummen Hände von Uropa Max geerbt
(DePuytren)
- Gerne würde Peter von Hünerbein Kontakt aufnehmen mit den Nachfahren der Familie Meyer -
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Leben Martha (*1880) und Max Meyer (*1867) bis 1945
H A N S V O N H ü N E R B E I N
KINDHEIT, JUGEND, SCHULE, STUDIUM, HEIRAT
1903 - 1931
"Die Zeit enteilet -
Erinnerung macht Vergangenheit
zu lebendiger Gegenwart!"
Verson 1.0 digitalisiert, formatiert PvH 2018-03-13
Nächster Schritt: Überschriften und Kapitelbildung
ELSASS-THÜRINGEN (Frühe Kindheit)
Nachdem ich eine "Familiengeschichte" abgeschlossen habe, soll nun meine eigene "Lebensgeschichte" folgen, auf die man anscheinend schon neugierig ist. Ich verlasse mich dabei auf mein immer noch gutes Gedächtnis und benötige dafür weder Archive, Urkunden oder ähnliche Unterlagen. Ich habe das in der Tat unziemlich lange aufgeschoben, aber der liebe Gott hat mit mir Geduld gehabt undvergönnt mir noch Zeit.
Wenn man geboren wird, erblickt man zwar zunächst garnichts, aber immerhin doch "das Licht der Welt" - ich tat dies am 12. November 1903 in Colmar im Elsaß.
Mein Großvater war als kaiserlicher Forstmeister dorthin versetzt worden, und daher diente mein Vater als junger Offizier bei einem Infanterieregiment in dem nahen Straßburg. Dort hatte er sich offenbar in ein sehr hübsches Mädchen so heftig verliebt, daß das nicht ohne Folgen geblieben war: Ehrenmann, der er war, heiratete er sie sofort - es war nur ein kurzes Glück; denn von sehr zarter Gesundheit starb sie noch am gleichen Tag meiner Geburt und ließ mich mutterlos zurück. So habe ich sie nie gesehen und kennengelernt; nicht einmal ein Bild besitze ich von ihr. Erst viele Jahre später, als ich schon lange verheiratet war, besuchte ich ihre jüngste Schwester Amalie ("Male") in Berlin. Meiner Mutter soll sie mit ihrer zierlichen Gestalt, lieblichem Gesicht, blondem Haar und blauen Augen sehr ähnlich gesehen haben; ich habe mich gleich sehr zu ihr hingezogen gefühlt. Leider habe ich sie danach nicht wiedergesehen, denn sie starb früh - offensichtlich von ebenso schwacher Gesundheit wie ihre Schwester.
Da mein Vater ja keinen eigenen Hausstand hatte, nahm mich meine Großmutter sogleich zu sich. Dabei hatte sie noch eine Nebenabsicht: nach den damaligen gesellschaftlichen Anschauungen hatte mein Vater weit "unter seinem Stande" geheiratet, deshalb sollte wenigstens ich in dem unseren aufwachsen und erzogen werden. Sie ging - wie sie meinte zu meinem Besten - so weit, alle Beziehungen zu der Familie meiner Mutter strikt zu unterbinden - und hat dies bis zu ihrem eigenen Tod 1925 auch durchgehalten. (Heute empfinde ich das als sehr hart und unberechtigt, war ich doch eigentlich genausogut deren "Häns'chen", wie sie auch meinem Vater ein liebevolles Gedächtnis bewahrt haben). Erst nach Jahren haben wir doch noch zusammengefunden und herzlich zueinander gestanden.
Ich kräftigte mich sehr bald unter der Pflege meiner Großtante ANNA (dem "Täntchen"), die ihr ganzes Leben bei ihrer Schwester zugebracht, ihr den Haushalt geführt und auch die Kinder aufgezogen hatte - und schließlich auch mich.
Wegen meines schwächlichen Zustandes nach der Geburt war ich sofort notgetauft worden und hatte dabei Vornamen aus beiden Familien erhalten: HANS, Arthur (Großvater väterlicherseits) und Jakob mütterlicherseits, sowie Friedrich und Wilhelm nach irgendwelchen Onkeln. So steht es denn auch in den Standesamtsakten von Colmar und in allen meinen Papieren und ist somit allein rechtsgültig.
Das paßte aber meiner Großmutter garnicht, die mich allein für die Hünerbein-sche Familie vereinnahmen wollte. Sie bestand darauf, daß ich - wieder bei Kräften - noch einmal feierlich "richtig" getauft würde und erhielt andere Vornamen: zu dem Hans und Arthur noch Julius (nach meinem Urgroßvater, Edwin (Bruder meines Großvaters und bereits Pate meines Vaters) und schließlich Kurt (wie der nächstjüngere Bruder meines Vaters, also mein Onkel und später, als mein Vater im Krieg gefallen war, mein Vormund). Aber wie gesagt, das Ganze hatte nur rein "symbolischen" Wert.
Je mehr ich mich mit der Vergangenheit befasse, desto mehr tauchen - manchmal kleinste - Begebenheiten wieder auf namentlich aus der frühesten Kindheit, und ich fange zu zweifeln an, daß das ganz eigene Erinnerungen sind, sondern vieles den lebhaften Erzählungen meiner Großmutter entstammt - jedenfalls kann ich das heute nicht mehr unterscheiden, wäre ja auch unwichtig, denn so geschehen ist es und damit echt Teil meines Lebens.
Zu einem Forsthaus gehört allerlei Getier: ein Pferdegespann für den Jagdwagen, Jagdhunde, sonstiges Vieh - und ein kleines zugelaufenes mutterloses Rehkitz, besonderer Liebling meiner Tante HELENE. Über sie möchte ich an dieser Stelle noch einiges berichten.
Sie sah ihrer stattlichen Mutter sehr ähnlich, war aber von zarterer Gestalt und kränkelte etwas an der Lunge. Sehr geschickt in künstlerischen Handarbeiten beschäftigte sie sich besonders gern mit der damals beliebten "Brandmalerei": mittels der glühenden Spitze eines Metallgriffels wurden Motive und Muster in Holz eingebrannt. So hat sie mit der Zeit verschiedene Möbel des Eßzimmers sehr hübsch verziert: z.B. die unteren und oberen Türflächen des eichenen Büfets und den großen Eichentisch. Dessen Platte erhielt als Umrahmung eine Girlande aus Blatt- und Nadelwerk von Waldbäumen; besonders originell war die Tischmitte gestaltet: 3 Häs'chen so einander zugeordnet, daß sie zusammen nur 3 Ohren hatten und doch jedes 2! Wie das eigentlich hinkam, bringe ich heute nicht mehr zusammen.
An diesem Tisch ist mir noch etwas unvergeßlich geblieben: seine 4 massiven gedrechselten Beine waren nach unten zu durch ein ebensolches Balkenkreuz miteinander verbunden und dieses in der Mitte durch einen kräftigen Holzkegel gekrönt. Schon für die Kinder der Großeltern und danach auch für mich war es ein beliebtes Spiel, mit unter dem Tisch ausgestreckten Beinen mit den Füßen den Kegel zu umfassen und herauszuziehen, wobei er natürlich meist auf den Fußboden polterte (vielfache Versuche, ihn fest einzuleimen, waren stets gescheitert und schließlich ganz aufgegeben worden). Noch reizvoller, weil schwieriger, war der Versuch, ihn in umgekehrter Weise wieder aufzustellen. Es ist erstaunlich, wie sich so etwas für das ganze Leben in einem verankern kann: kein Möbel, das z.B. auf einer Lehne einen Knauf oder Zapfen trägt, ist heute noch vor mir sicher - er muß heraus, und tut es zu meiner Genugtuung auch meistens.
Bei der Brandmalerei entstanden nicht nur üble Dämpfe, sondern man atmete davon, aufmerksam über die Arbeit gebeugt, sehr viel ein. Anscheinend ist niemand auf den Gedanken gekommen, dies wäre schädlich und für eine schwache Lunge bedrohlich. Meine Tante heiratete, bekam ein Töchterchen AGNES, fuhr fort mit der Brandmalerei - und verstarb sehr schnell an der galoppierenden Schwindsucht. Was blieb übrig, als daß meine Großmutter auch dieses Kind erst einmal zu sich nahm. So erhielt ich einen willkommenen Spielkameraden. Ihr Vater, Wilhelm von Zoepffel, war als Forstmann bei einem Fürsten Pleß in Oberschlesien, der dort riesige Waldungen besaß, sehr bald zum Oberforstmeister aufgestiegen. Nach einiger Zeit heiratete er zum zweitenmal und nahm dann sein Töchterchen Agnes wieder zu sich. Er verehrte meine Großmutter sehr und blieb auch weiterhin mit ihr eng verbunden. (Das wirkte sich auch materiell günstig für uns aus: zu jedem Weihnachten traf pünktlich eine fette polnische Gans und ein Reh aus Schlesien bei uns ein.)
Agnes bin ich erst sehr viel später wieder begegnet: bei ihrem Besuch bei uns in Eisenach und dann ganz überraschend in Mannheim, wo sie kurz hinterher ihre Ausbildung auf einer Fachschule beendete, während ich zum Berufsanfang in dem dortigen Siemensbüro tätig war.
Aus Erzählungen weiß ich, daß mein Großvater schon damals ein "Fahrrad"besessen hat, schon nicht mehr als "Laufrad", bei dem man sich mit den Füßen abstoßen mußte, sondern eine sog. "Draisine", so genannt nach dem Erfinder, einem Freiherrn von Drais, schon mit Pedalen und einer Kette zum Hinterrad, aber noch mit eisenbeschlagenen Holzfelgen.
Mein Großvater war keinesfalls handwerklich ungeschickt, aber Arbeiten im Haushalt abhold. Um ihnen zu entgehen, pflegte er sich so wenig anstellig zu zeigen, bis seine Frau, obwohl sie ihn gewiß durchschaute, (welche Gattin tut das nicht?), die Geduld verlor und rief: "Nun gib schon her, das kann ja kein Mensch mit ansehen!" Worauf er zufrieden in seinem Arbeitszimmer verschwand.
Im Elsaß geboren bin ich demnach ein sog. "Wagges" (kommt wohl von den Vo-gesen = "Wasgau"). In dem Wort klingt mit leichtem Spott etwas landsman-schaftliche Eigenart mit: Elsässer sind Alemannen, denen man Neigung zu Dickköpfigkeit und Eigenbrötelei nachsagt. Besonders stark hat sich das in der Politik immer wieder gezeigt: das Elsaß hat ja mehrere Male die Staatszugehörigkeit gewechselt: gehörten sie gerade noch zu Deutschland, wollten sie unbedingt zu Frankreich - und umgekehrt! Bei ihrer Sprache, dem "Elsässer-Dütsch", machten sie einen Kompromiss mit einem Gemisch aus beiden Sprachen, der für fremde Ohren recht lustig klingt; dazu einige Beispiele, die über meine Großmutter auf michübergekommen sind:
"Chassez le Gickel em Schardäng (jardin)"
"A peine que je le dise - plautz! leit er do!"
"Voilä bums - do leit'r"
"Lueg Güschtaf, s'gieht ä schangschemang in
der Temperatüre - mir isch so sängülier
übr dr Buch (Bauch)!"
17 Jahre, wohl ihre glücklichsten, verbrachten die Großeltern im schönen Elsaß (die letzten ich mit ihnen), bis 1906 eine große Veränderung eintrat. Es stellte sich immer wieder heraus, daß mein Großvater von seinem Kriegsleiden her (ein schwerer Gelenkrheumatismus) als Folge der Winterbelagerung von Paris und eines kalten und feuchten Quarties in einem alten Château den Anstrengungen seines Berufes im großen Waldrevier der Vogesen immer weniger gewachsen war und sich um die Versetzung in ein leichteres Revier umtun mußte.
Einmal hatte er schon einen schweren Rückfall erlitten, und der befreundete Professor aus Straßburg eröffnete meiner Großmutter, daß sie sich auf das Schlimmste gefaßt machen müßte. Als sie tief besorgt in das Krankenzimmer eintraf, saß er munter im Bett und meinte vergnügt: "So schlimm, Lottchen, kann es eigentlich gar nicht stehen. Weißt Du, was er zu mir gesagt hat? Mit Ihnen, Herr Baron, trinke ich in 6 Wochen wieder einen guten Schoppen in Straßburg!" - und so ist es tatsächlich gekommen (er ist nicht der einzige hemmungslose Positivist in unserer Familie).
Sein Gesuch um Versetzung wurde genehmigt, und er konnte in ein wesentlich kleineres Revier in dem Ort "Frauensee" und an dem gleichnamigen Gewässer unmittelbar an der Westgrenze von Thüringen, etwa in gleicher Höhe mit Eisenach. Hatte er dort schon Forstwirtschaft studiert und seine Frau ken-nengelernt und heimgeführt, so wird diese Stadt auch weiterhin eine Rolle in diesem Bericht spielen.
Die Landesgrenzen gingen mitten durch den See, und just an seinem Ostufer hatte der thüringische Forstmeister sein Domizil. Die beiden Herren verstanden sich gut und pflegten deshalb ihre Waldgänge gemeinsam zu machen; das ging so vor sich. Wenn mein Großvater in der Frühe aus dem Haus trat und also nach Osten blickte, schien ihm gewöhnlich die Morgensonne mitten ins Gesicht und in die Augen und löste (wie auch bei den meisten ändern in der Familie) einen gewaltigen Nieser aus, der dann über den See donnerte. Das war für den Kollegen am anderen Ufer das Signal zum Losmarschieren, um sich oben am See-Ende zu treffen.
Auch ich gehöre zu den starken Niesern und habe damit einmal einen beachtlichen Erfolg erzielt. In einem Schwimmbad schickte sich der Studentenmeister im Springen gerade zu einem kunstvollen Absprung an, als mir ein Nieser entfuhr, durch die Akustik der Halle wirkungsvoll verstärkt. Der junge Mann, schon in der Luft, klappte zusammen und klatschte ganz schief mit dem Rücken auf das Wasser, ziemlich schmerzhaft wahrscheinlich. Er hatte gemeint, das Brett sei gebrochen, wie es ihm schon einmal ähnlich ergangen war.
In Frauensee habe ich auch das erstmal mein Herz an ein weibliches Wesen verloren, an "Gretchen Fiedler", Töchterchen eines Großbauern, in dessen Hof man etwas von dem Forsthaus aus hineinschauen konnte. Dort gab es nämlich eine sog. "Lokomobile", eine fahrbare Dampfmaschine, mit der sommers die Dreschmaschine, winters eine Kreissäge für Brennholz angetrieben wurde (das Poltern und Kreischen habe ich jetzt noch in den Ohren). Diese Maschine übte natürlich auf einen Buben wie mich eine große Anziehungskraft aus -böse Zungen behaupten, daß meine Liebe weniger Gretchen als der Maschine gegolten hat.
Mein Großvater war immer sehr liebevoll zu mir und hat sich viel um mich gekümmert. Zuweilen saß ich am Schreibtisch auf seinen Knien, wenn er für mich aus alten Tarockkarten hübsche Häus'chen mit Fensterchen und Türen zum Öffnen ausschnitt und zusammenklebte und auch noch farbig anmalte: die Dächer rot und die Wände grün. Als er von neuem erkrankte, durfte ich still an seinem Bett sitzen und Bilderbücher betrachten. Aber eines Tages verschlimmerte sich sein Zustand so, daß ich nicht mehr zu ihm heineingehen durfte und nur noch traurig vor seiner Tür saß. Und dann starb er .......
Meine Großmutter war ja in dem so nahen Eisenach erwachsen geworden und hatte dort noch viele alte Bekannte und Freundinnen. Nichts lag also näher, als dahin überzusiedeln, und das geschah auch. Damit begann für mich, was ich die "Eisenacher Zeit" nennen möchte. Ehe ich jedoch dieses Kapitel aufschlage, will ich noch von etwas anderem sprechen.
Mein Vater hatte inzwischen wieder geheiratet - auch diesmal nicht ganz nach den Vorstellungen seiner Mutter. Das stimmte sie dazu, mich auch weiter bei sich zu behalten; andererseits wollte sie mir eine "Stiefmutter" ersparen. Wie recht sie damit hatte, zeigte sich sehr bald, indem diese große Anstrengungen machte und meinem Vater in den Ohren lag, mich meiner Großmutter fortzunehmen. Nicht etwa, weil sie mich mochte und selbst für mich sorgen wollte, sondern offensichtlich aus Eifersucht, daß ich es "besser hätte" als ihre eigenen Kinder. (Mit der Zeit habe ich das zürn Teil verstanden, nicht aber, daß sie mich ihre Abneigung deutlich spüren und mich entgelten ließ.) Mein Vater war zwar im allgemeinen sehr nachsichtig gegen sie, aber mich hatte er doch so lieb, daß er mich dem nicht aussetzen mochte und setzte meine Rückkehr zu meiner Großmutter bei meiner Stiefmutter durch.
Es gab mehrere Zwischenaufenthalte bei meinem Vater, zunächst als bloße Besuche, aber jedesmal mit dem Versuch, mich ganz zu behalten; sie sind aber alle mißglückt, denn darin war meine Großmutter eisern.
Zu irgendeiner Zeit war ich bei ihnen in Berlin; meine einzige Erinnerung war eine bescheiden möbilierte und düstere Altstadtwohnung und der Anfang des "Kinos"! Nichts damals von den späteren prunkvollen Palästen, sondern ehemalige Läden schlauchartig nach hinten erweitert mit Sitzreihen aus unbequemen Klappstühlen und einem Ansager und Klavierspieler nach dem Motto: "Es wird gebeten nicht auf ihn zu schießen - der Mann tut sein Bestes!" Wegen der geringen Bildfrequenz bewegten sich die Schauspieler ruckartig und zappelig und agierten furchtbar übertrieben. Manche Filme waren sogar schon eingefärbt: "grün" für Natur, "gelb" für Sonne und Strand, "weiß" für innen, "blau" für Nacht und "blutrot" für alle Arten von Katastrophen, besonders für Feuersbrünste! !!
Ein andermal besuchte ich meinen Vater in "Schnaitheim" an der Brenz nahe Heidenheim nördlich von Ulm, wo er eine Tätigkeit als Büroangestellter gefunden hatte. Es ist dazu zu sagen, daß er als ehemaliger Offizier nichts anderes gelernt hatte. Etwas half ihm sein gewandtes Auftreten, seine rasche Auffassungsgabe und technisches Verständnis. (Zu gern hätte er das "Perpetuum mobile" erfinden wollen und sich immer wieder daran versucht: jene Maschine, die ebensoviel Energie erzeugt, wie sie verbraucht, - möglichst sogar noch mehr. Bekanntlich stehen dem unüberwindliche Naturgesetze entgegen; aber die erkennen solche Erfinder eben einfach nicht an mit der Ausrede: das ist eben noch nicht entdeckt worden!) Glücklicherweise fehlten ihm die Mittel zu kostspieligen Experimenten, und er hat sich mit Entwürfen auf dem Papier begnügen müssen.
Aber einiges habe ich offensichtlich in Richtung Technik geerbt (und einige meiner Söhne von mir). Das hat sich bei mir schon in ganz früher Jugend gezeigt: an der Tür eines (kalten) Zimmerofens hätte ich an einer Schraubenmutter solange herumgedreht, bis ich sie tatsächlich losgekriegt hatte. Von anwesenden wohlwollenden weiblichen Wesen gebührend bewundert, sei ich gefragt worden, was ich einmal werden wollte und prompt geantwortet "elektrischer Techniker"! (Daß ich als kleiner Knirps ein so schwieriges Wort hatte überhaupt aussprechen können, lag daran, daß mein Vater sich vor Besuchern manchmal den Spaß machte, mich irgendwelche mir unverständlichen Wörter nachsprechen zu lassen).
Nun weiter mit Schnaitheim: wir wohnten in einem der etwas außerhalb gerade neugebauten Häuser. Manches war erst halb fertig; ein kleiner Garten bestand im wesentlichen nur aus der Umzäunung und einer Laube aus Stangenholz. Es gab für mich keine Spielkameraden, und ich vermißte meine vielen schönen Spielsachen in Eisenach sehr schmerzlich. Es gab weder Strauch noch Baum, die Sommersonne brütete mittags auf dem kahlen Boden (das müde Quarren von Hühnern höre ich heute noch).
Ich kam dort in die Dorfschule, ein verdächtiges Zeichen, daß ich mich auf einen längeren Aufenthalt, vielleicht für immer würde einrichten müssen (wovon vorher nie die Rede gewesen war). Das damals ganz neue Schulhaus mit den dicken farbig gestrichenen Klappläden habe ich später bei der Vorbeifahrt mit der Bahn noch ein paarmal wiedergesehen. Dabei erinnerte ich mich an jenes raffinierte mechanische "Lesegerät", das mich damals sehr beeindruckt hat. Auf Walzen waren nebeneinander, aber einzeln zu verstellen, Bänder mit Täfelchen darauf befestigt, die jeweils einen Buchstaben des Alphabets trugen, so daß man nach Belieben Wörter zusammenstellen und so das Lesen üben konnte, ohne daß sie jedesmal erst an die Tafel geschrieben werden mußten.
Im Ort wohnte eine Tante "Luise", Frau eines Arztes Dr. Zoepffel und Bruder meines Onkels Wilhelm, von dem ich schon gesprochen habe. Sie hatte offensichtlich Mitleid mit mir und war sehr freundlich zu mir. Außerdem gab es da noch eine nette Fleischersfrau, die mir jedesmal eine Scheibe Wurst zusteckte. Eine besondere schwäbische Spezialität waren die "Springerle": sie waren mit Eierschaum mit Anisgeschmack bedeckt mit verschiedenen Ornamenten und wurden in sog. Holz-"Modeln" gebacken - waren sie fertig, dann sprangen sie aus der Form, daher ihr Name.
Zeit meines Lebens habe ich eine Vorliebe für Bahnübergänge mit Schranken. Im Gegensatz zu den übrigen Autofahrern schimpfe ich nie, wenn ich an eine geschlossene Schranke komme, sondern erwarte freudig die Vorbeifahrt eines möglichst langen Zuges. Die Schranke in Schnaitheim ist wohl die erste für mich gewesen und hat mich für mein ganzes Leben "geprägt".
Eines Tages hatte ich einen verdorbenen Magen; sofort behauptete meine Stiefmutter, das sei bloß eine Laune von mir, um sie zu ärgern, und traktierte mich mit einer scheußlichen Haferschleimsuppe mit klarem Wasser und als einziger "Würze" ein großer Löffel bitteres Muskatpulver - und das erbrach ich sofort wieder. Als mein guter Vater abends nach Hause kam, hörte er sich erst einmal in Ruhe ihr Lamento an und ordnete dann an: "Gib dem Jungen erst einmal etwas Vernünftiges zu essen!" Und siehe da, ich behielt es bei mir. Dies und anders ließ ihn einsehen, daß es mit mir und meiner Stiefmutter auf die Dauer nicht gut gehen würde und brachte mich zu meiner Großmutter zurück.
Wieder ein andermal war ich zu Besuch bei meinem Vater in Schwarzenberg im Erzgebirge, wo er in einer Fabrik tätig war, die nach meiner Erinnerung Etuis herstellte, die mit Leder oder Samt bezogen waren. Während meines Aufenthaltes zogen wir aus der höher gelegenen Altstadt in eins der von der Firma neu errichteten Einfamilienhäuser im Talgrund. Nachdem das letzte Stück in einem Möbelwagen verstaut worden war, ließ mein Vater, um mir einen Spaß zu bereiten, für uns zwei Stühle in den Wagen stellen, so daß wir mitfahren konnten, und die großen Türen hinten wurden von Außen geschlossen. Nun hatte er leider übersehen, daß es, als wir unten ankamen, Mittagspause für die Leute war. Die hatten uns anscheinend völlig vergessen und ließen uns eine ganze Stunde im Düsteren sitzen; das verdroß meinen sonst so gutmütigen Vater beträchtlich. Endlich wurden wir befreit, und mein Vater ging schimpfend mit dem Architekten, der lange vergeblich auf ihn gewartet hatte, ins Haus hinein - und dann ereignete sich etwas, das mir wie ein richtiges "Wunder" erschien.
Es lag da noch allerhand Bauschutt umher, und mit einmal hatte ich einen größeren Stein in der Hand und warf ihn in Richtung auf das Haus - und traf leider: ein Kellerfenster! Gerade in diesem Augenblick packte mich dieser Vater, den ich eben hatte im Haus verschwinden sehen, am Genick und walkte mich tüchtig durch (meines Wissens die einzigen Schläge, die ich von ihm je erhalten habe).
Insgesamt hat es in meinem Leben drei "Kollisionen" mit Fensterscheiben gegeben, von denen ich eine hier gleich noch berichten will. Wir wohnten kurze Zeit in Weimar in der Junkerstraße, an der die Häuser ohne Vorgärten direkt am Gehweg lagen. Ich besaß ein nettes Spielzeug, einen schmalen längeren spiralig aufgewundenen Blechstreifen, auf dem ein Propeller hochgeschoben und dadurch in rasche Drehung versetzt werden konnte. Tat man das sehr schnell, so schwirrte er ein ganzes Stück weit durch die Luft - dabei sauste er einmal gegenüber ausgerechnet in die Scheibe eines Kellerfensters erzeugt aber nur einen schrägen Sprung an einer Ecke des Glases. Meine kluge Großmutter vermochte aber die scheltende Besitzerin davon zu überzeugen, daß es doch nicht nötig sei, gleich eine ganz neue Scheibe einzusetzen, solange es die alte noch tat: sollte sie einmal zu Bruch gehen, würden wir sie natürlich ersetzen. Wir zogen aber sehr bald fort, ohne das dies nötig wurde -und wenn die Scheibe keinem Luftangriff zum Opfer gefallen ist, dann lebt sie vielleicht heute noch!
2.EISENACH
"Eine der beiden hauptsächlichen Städte des ehemaligen Großherzogtums Sachsen-Weimar, Eisenach, gelegen an den nördlichen Ausläufern des Thüringer Waldes an den Ufern der Werra und Hörsel (nach einer Anekdote soll ein Professor sogar gelehrt haben, daß es noch einen dritten Fluß gäbe, nämlich die "Frankfurter Chaussee"! Das war gar nicht so ganz abwegig, denn noch zu meinen Zeiten war diese Landstraße nicht gepflastert und die tiefen Wagenspuren standen oft fußtief voll Wasser)......."
Nein, so soll es nicht weitergehen, denn wir möchten ja kein Reisehandbuch verfassen und die vielen bemerkenswerten Dinge landschaftlicher, historischer und kultureller Art allein von meinem eigenen Erleben her beschreiben.
An unsere erste Wohnung, bei "Isleibs", habe ich nur noch die dunkle Erinnerung, daß an dem Grundstück ein munterer Mühlbach entlang floß und es dort ziemlich feucht gewesen sein muß, was der Gesundheit meiner Großmutter nicht zuträglich war. So zogen wir bald um, und zwar ganz nach Süden in das schöne "Mariental" in ein einzelstehendes mehrstöckiges Mietshaus leicht am Hang und von Tannen umgeben. Dahinter erhob sich das ganze Tal entlang eine Kette von bewaldeten Bergen und auf der ganzen Talseite ein Hochplateau, oben auch mit Bäumen und einer Heidefläche, eine längere Strecke senkrechte Felswand zum Tal hin.
An seinem Ende stieg die Fahrstraße zur "Hohen Sonne" empor. Oben hatte man in den Tann eine schmale Schneise geschlagen und damit einen beliebten "Wartburg-Blick" geschaffen. Neben der Straße hatte ein Bach die "Drachenschlucht" bis zum Grund in den Felsen gefressen mit senkrechten moosbewachsenen Wänden. Danebenher lief ein schmaler Wanderpfad; wo es so eng wurde, daß man auf beiden Seiten zugleich die Wände hätte berühren können, war der Weg in den Felsen hineingeschlagen worden. Besonders im Winter war es romantisch, wenn der Frost einen Vorhang von dicken langen Eiszapfen gebildet hatte. Der Bach (Fluß Nr.4! schlängelte sich im Talgrund stadteinwärts. Auf halbem Wege nahm er noch ein anderes Gewässer aus der "Landgrafenschlucht) auf, die aber eigentlich gar keine war, sondern wenig ansteigende Ufer zwischen lichten Buchen hatte, einer der unzähligen wunderschönen Spazierwege, die wir fleißig benutzten.
Uns gegenüber befand sich das "Schützenhaus" mit einem Gelände für das sommerliche Schützenfest, eine besondere Attraktion für mich mit seinen Karussels, Geisterbahn, Reitzelt usw. Besonders originell war ein "Teufelsrad", eine große kreisrunde polierte Holzfläche: man stellte sich bei Stillstand darauf und versuchte sich möglichst lange obenzuhalten, während die Scheibe immer stärker in Drehung gesetzt wurde. Unweigerlich wurde man durch die Fliehkraft nach außen gedrängt und landete schließlich an einer gut gepolsterten Bande, das gab immer Grund zu Gelächter; man war jedesmal gespannt, wer da als letzter bleiben würde. Natürlich gab es nach dem Walde zu auch Schießstände; auch von zuhause konnte man an dem Geknalle und Gedudle und an dem Duft von Rostbratwürstchen teilhaben, was ich alles noch in den Ohren und in der Nase habe.
Nun müßte ich eigentlich diese Seite noch einmal neuschreiben, weil ich eine Zwischenstation vergessen habe; aber das möchte ich nicht, und trage sie hier einfach nach. Vor dem Mariental hatten wir für kurze Zeit eine Wohnung mitten in der Stadt bezogen, im obersten Stock eines Eckhauses, in dem sich unten ein großes Kolonial Warengeschäft befand. Dessen geräumiger Innenhof, in dem Waren und Verpackung gelagert wurden, war glasüberdacht, sodaß man bei jeder Witterung dort spielen und z.B. aus alten Kisten und Kartons Häuser bauen und bewohnen konnte, mit alten Säcken weich möbliert. Die "Wohlgerüche des Ostens" vom Hering bis zum frischgerösteten Kaffee störten uns nicht, aber meine Großmutter sehr. Die vielen Stufen bis hinauf zu uns und der erhebliche Lärm von der Straße war ihr auf die Dauer zuviel, und wir zogen in das Mariental.
Zu der Zeit erhielt ich zum erstenmal Unterricht, aber privat und sogar daheim bei einer pensionierten Lehrerin, die unter uns wohnte und mir gern die Anfangsgründe der Lese-, Schreib- und Rechenkünste beibrachte. Bis zu einer Schule in der Stadt wäre es trotz der Straßenbahn ("Trambahn" wurde sie damals genannt - auf die noch später ausführlich eingegangen wird) für mich mit meinen knapp 6 Jahren zu weit und anstrengend gewesen.
Die vielen Bekanntschaften bestanden meistens aus lieben alten, aber den regen geistigen Ansprüchen meiner Großmutter wenig entsprechenden Damen. Ein "Kränzchen" vergnügte sich außer mit Kaffee und Kuchen mit dem Vorlesen für die anderen mäßig interessanter Post von Söhnen und Enkeln (während des Krieges vor allem der Feldpostbriefe). Ich selbst habe immer ein besonderes Faible für alte Damen gehabt, hier besonders für eine schon über 90 Jahre alt, die mit Recht bewundert wurde, weil sie als einzige ohne Brille lesen konnte und den "Kindern" (die meisten über 70) vorlesen mußte, wenn sie wieder einmal ihre Brillen (ihre "Lorgnons") vergessen hatten. Ich hatte es vor allem auf Frauen abgesehen, die die 90 schon überschritten hatten und vielleicht sogar 100 werden würden, aber alle haben mich enttäuscht. Die aus dem Kränzchen starb nicht an irgend einem Leiden, aber einmal beim Aussteigen aus der Straßenbahn (in dem Alter!) rutschte sie aus und brach sich einen Oberschenkelhals, und das lange Liegen hat sie dann umgebracht. (Ich hatte in meinen jungen Jahren einen Ehrgeiz, selber einmal 100 zu werden, und da ich ja 1903 geboren bin, mußte ich also mindestens 97 werden: sehr weit bin ich heute garnicht mehr davon entfernt, nun ist es mir nicht mehr wichtig -dagegen hätte ich aber auch nichts, wenn ich weiterhin so gesund bleibe und noch lange schreiben kann).
Meine Großmutter stand auch in Briefverbindung mit einer Frau Förster-Nietzsche, der Schwester des Philosophen. Sie wohnte in Weimar und riet meiner Großmutter, in diese geistig immer noch rege Stadt umzuziehen - im Frühjahr 1911 taten wir dies denn auch.
3.WEIMAR
Das Parterre in der Junkerstraße, das wir bezogen, lag ebenerdig direkt an dem Bürgersteig, so daß Vorübergehende einem ins Zimmer hineinschauen konnten. Tags mochte das noch angehen, aber bei Einbruch der Dunkelheit mußten dicke Holzläden von außen geschlossen und natürlich in der Früh wieder aufgemacht werden; außerdem stand direkt vor dem Schlafzimmer eine sehr helle Laterne. Einen Garten hatten wir nicht und ich bin ungewiß, ob es wenigstens ein bißchen Grün von Straßenbäumen gab. Lediglich zwischen dem Zugangsweg zum Seiteneingang und dem Zaun war ein schmaler Streifen mit Büschen und darin eine Holzgartenlaube. Dorthin zog ich mich manchmal nach dem Mittagessen zu Schularbeiten oder zum Spielen zurück, um die beiden Damen nicht in ihrem Schläfchen zu stören.
Der Sommer 1911 war extrem heiß und trocken; es hat wochenlang nicht geregnet. Manchmal zogen schwarze Wolken auf und alles rannte auf einen nahen großen Platz - aber dann verschwanden sie still, wie sie gekommen waren, und kein Tropfen fiel.
Ich habe mein erstes richtiges "Erdbeben" erlebt! Wir saßen abends an dem großen Eichentisch; ich spielte wohl irgend etwas mit meiner Großmutter und das Täntchen schneiderte. Plötzlich entstand draußen ein großes Rumpeln, als wenn ein schwerer Wagen über Kopfsteinpflaster rollt, der Kuckuck in unserer Wanduhr tat zur Unzeit einen kläglichen Piepser, das Pendel schwanke heftig hin und her und blieb dann stehen. Die schwere Schneiderschere geriet in Bewegung und rutschte unaufhaltsam quer über den Tisch und fiel zu Boden.
" Ein Erdbeben" rief meine welterfahrene Großmutter sehr richtig, wir rannten auf die Straße, aber es war schon alles vorüber.
Von den Sehenswürdigkeiten der Stadt, (z.B. Goethehaus) ist mir kaum etwas im Gedächtnis geblieben mit Ausnahme des Großherzoglichen Schlosses wegen einiger Sonderlichkeiten:
- man mußte zum Schutz des kostbaren Parkettes dicke FiIzpampuschen überziehen und konnte, wenn der Aufseher nicht gerade herschaute, damit prächtig Schlittschuh laufen -
- riesige grüne Malachitvasen aus der Aussteuer der Großherzogin Amilie, Tochter des russischen Großfürsten - vermutlich wahnsinnig wertvoll -und gewissermaßen als Gegenstück dazu - das Waschnäpfchen ihrer Hoheit, klein (der Napf) wie ein Spucknapf, aber natürlich aus edelstem Porzellan. (Man hielt ja dazumal nicht viel von Wasser und Seife, sondern puderte sich und klopfte den von Zeit zu Zeit mit einem - silbernen(l) - Hämmerchen ab - den Rest mußte das Parfüm tun -
Niemals vergesse ich ein kleines Süßwarenlädchen in der "Windischengasse", weil es dort ganz bestimmte kleine Pfeffernüsse gab, die ich nie wieder habe anderswo entdecken können.
Ich ging jetzt in eine öffentliche Vorschule, weiß davon aber nur noch, daß es eines morgens hieß, ein "Zeppelin" würde auf dem Exerzierplatz draußen vorder Stadt landen; wir erhielten sofort schulfrei und stürzten begeistert davon - am Ziel angekommen ergab es sich leider, daß alles nur eine Fehlmeldung gewesen war. Um schneller laufen zu können hatte ich meine Schulmappe unterwegs in irgendeinen fremden Hausgang geworfen und nachher beträchtliche Mühe, sie wiederzufinden, unversehrt.
Gut ist mir noch der sehr schöne offene Schloßpark in Erinnerung, vor allem wegen eines berühmten Shakespeare-Denkmals, aber weniger wegen des großen Dichters selber, sondern weil ein Unhold es eines Tages mit flüssigem Teer übergössen hatte, der von dem Alabaster nicht mehr ganz hatte entfernt werden können, und die Vorübergehenden ließen die Gelegenheit nicht aus, sich darüber zu empören.
In der Weimarer Zeit geschah es das letztemal, daß meine Stiefmutter versuchte, mich endgültig meiner Großmutter fortzunehmen. Mein Vater hatte in "Raguhn",einem Städtchen in Anhalt, eine Tätigkeit gefunden und sich mit der Familie dort einigermaßen eingerichtet. Während der Sommerferien wurde ich dort eingeladen und mir aus heiterem Himmel eröffnet, daß ich nun dauernd dort bleiben würde - ich war totunglücklich. Aber da hatte man die Rechnung ohne meine Großmutter gemacht. Besonders wütend, weil sie völlig hintergangen worden war, bewaffnete sie sich mit meinem Onkel Kurt und erschien zu meiner grenzenlosen Überraschung unangemeldet auf der Bildfläche. Ich wurde kurzerhand hinaus in ein Nebenzimmer geschickt, und es muß sich hinter der Tür ein sehr harter Kampf um mich abgespielt haben -plötzlich öffnete sie sich, meine Großmutter schloß mich in die Arme und Sagte: "Komm, mein Junge, wir fahren nach Hause !" Es war wohl der glückseligste Augenblick meines Lebens, und mir kommen noch die Tränen, während ich dies hier niederschreibe....
In diesen Sommer fiel die Hochzeit meines Onkels Kurt (nächstjüngerer Bruder meines Vaters) und meiner Tante Anita, die ich sehr verehrt habe, eine sehr schöne und hochgewachsene Frau mit blauen Augen und einem dicken Haarkranz aus üppigen blonden Flechten. Ihr Vater war deutscher Konsul in Argentinien gewesen, und dort war sie mit ihrem wenig älteren Bruder Carlos aufgewachsen. Zu der Zeit wollte er Maler werden und besuchte eine Akademie - ausgerechnet in Weimar.
In Oberhof im Thüringerwald war ein sehr hübsches Sommerhaus errichtet worden; dort war ich öfter in den Ferien zu Besuch und dort fand auch die Hochzeit statt. Als Besonderheit und Erinnerung an das Elsaß hatte meine Großmutter Trachtenkleider für die kleinen Brautjungfern (aus dem Ort) kommen lassen; das reiche weiße Unterzeug regte die kleinen Mädchen dazu an, sich während der Trauung in der Kirche, ausgiebig hinein zu "schneuzen". Die Rückfahrt in offenen Pferdewagen stieß auf unerwartete Hindernisse: die Dorfbuben spannten Seile quer über die Straße, und man mußte sich "loskaufen".
Die Erwartungen an Weimar hatten sich leider nicht erfüllt: meine Großmutter fand nicht die erhofften Verbindungen für ihre Schriftstellerei, wir fühlten uns fremd, nachdem wir die vielen guten Bekannten und Freunde in Eisenach aufgegeben hatten (dort waren ja auch die Gräber von Großmamas Eltern und das meines Großvaters), und wir kehrten schon im Herbst reumütig zurück.
4.EISENACH (Wieder)
Nach der langweiligen und schmucklosen Junkerstraße zogen wir in das Erdgeschoß eines in einem Garten frei am Hang stehenden zweistöckigen Hauses in einer Villengegend auf halber Höhe einer Bergkuppe, gekrönt von einem reichlich kitschigen "Burschenschaftsdenkmal" (sinnigerweise in Form eines riesigen Bierseidels).
Die Vermieterin war eine "Frau Pfarrer", d.h. ihr verstorbener Gatte war ein solcher gewesen. In den zahlreichen Zimmern des Obergeschosses unterhielt sie ein züchtiges Mädchenpensionat für "höhere Töchter". Noch im ungefährlichen Knabenalter durfte ich zuweilen zum Spielen nach oben kommen. Besonders hübsch war es in der Vorweihnachtszeit, wenn fleißig gebastelt wurde.
Ich ging jetzt unten in der Stadt zur Schule, aber nicht in die 4-klassige Grund-(Volks- oder "Bürgerschule")., sondern wie viele der Kinder aus den soz. höheren Ständen in eine 3-klassige Privatschule.
Mit dem Abschluß ergab sich nun die Frage, welche höhere Schule ich weiter besuchen sollte: das altsprachliche humanistische Gymnasium oder das neusprachliche und stärker naturwissenschaftliche Realgymnasium. Das erstere galt als sehr vornehm und war in einem ehemaligen ehrwürdigen Dominikanerkloster untergebracht, das andere hingegen ein nüchterer "preußischer" Backsteinkasten. Die höheren Schüler trugen stolz farbige Mützen: Gymnasiasten Grün mit goldenen, die Realgymnasten leuchtend Blau mit silbernen Einfassungen. Mein Vater entschied sich entsprechend seinen eigenen Neigungen für Technik und Naturwissenschaften - und hat in der Tat für mich eine gute Wahl getroffen.
Aus der Zeit in dieser Schule habe ich nur wenige Einzelerinnerungen. Ich erhielt weiter gute Zeugnisse; erst mit Beginn der Entwicklungsjahre ließ ich etwas nach (aber schlechtere Noten als die eine oder andere "3" gab es nie. Die einzige unrühmliche Ausnahme machte die "Handschrift" - ein paarmal eine "4"! Eine Tante hatte eine der schönsten deutschen Handschriften, die ich je gesehen hatte und mir außerordentlich gefiel, denn ich hatte Sinn für alles Graphische. Sie schrieb eine Art von "Sacre Coeur -Schrift, wie sie an jungen Damen bewundert wurde, die in dem Kloster in Frankreich aufgezogen wurden: sehr deutliche große und zugleich charaktervolle und ausgeschriebene Buchstaben. Ich war davon so begeistert, daß ich mir während ihres Besuches in den Sommerferien (!) Hefte kaufte, sie mir als Muster vorschrieb und ich jeden Tag fleißig übte. Das hat in der Tat für eine längere Zeit geholfen - leider aber doch nicht auf die Dauer, schon deshalb, weil ich zu einer bestimmten Zeit ganz auf lateinische Schrift überwechselte.
Nur unseren Rechenlehrer "Pappa Stolz", ein gutmütiger aber etwas cholerischer Herr, sehe ich heute noch vor mir - er hatte nämlich eine besondere Brille, die uns Rätsel aufgab. Heute hat man ja Gläser mit Übergang von nah nach fern; er löste das Problem auf seine Weise: schaut er in das Klassenbuch vor ihm auf seinem Pult, schob er die Brille hoch, blickte er in die Klasse hinein durch die Gläser - und ganz nach hinten zu den Bänken, die die Störenfriede bevorzugten, über die Brille hinweg. Einmal hatten wir ihn zu sehr geärgert, er stampfte wütend auf das Podium - und brach hindurch - welcher Schüler könnte so ein Ereignis je vergessen!
Thüringen war ja dazumal ein "Fleckerlteppich" von mehr als einem halben Dutzend Fürstentümern - das Großherzogtum "Sachsen-Weimar-Eisenach" ohne Zweifel das bedeutendste. Wie der Name sagt, bestand es aus 2 Gebieten und hatte entsprechend 2 Residenzstädte. Der Landesfürst kam aber nur selten nach Eisenach. Er war bei der Bevölkerung als unnahbar wenig beliebt und galt als unfreundlich (böse Zungen behaupteten, er habe seine jungverstorbene Gemahlin zu Tode geärgert. Uns Jungen gefiel es aber, das an seinem Geburtstag (wie beim Kaiser) schulfrei war und das Kreuz auf dem Bergfried abends beleuchtet und die Burg selbst angestrahlt wurde. Mittags wurden dann aus den alten Kanonen auf dem Burgplatz 21 Salutschüsse abgegeben; aber eine Parade oder dergleichen gab es nicht.
Die beiden Gebiete des Großherzogstumes lagen nicht einmal aneinander, sondern waren durch das Herzogtum "Sachsen-Coburg-Gotha" und einen preußischen Zipfel mit Erfurt getrennt. So kam es, daß man alle Nase lang über eine Grenze kam und dem Staat Gelegenheit gab, seine Einnahmen durch "Zoll" zu erhöhen. Dazu standen vor der Grenze Zollhäuser mit einem Vorbau, aus dem eine Art von Klingelbeutel an einem langen Stab nur aus dem Fenster herausgestreckt zu werden brauchte.
Von den anderen, mir ja fremden Fürstentümern erwähne ich nur "Schleitz-Greiz-Lobenstein" wegen eines kuriosen Verses: (In Greiz, in Schleiz, in der Sächsischen Schweiz, überall schneit's - ich weiß was Gescheit's, ich heiz’ !"
Von den mannigfachen sehenswerten Örtlichkeiten muß ich einfach die berühmte "Wartburg" hervorheben, weil ich zu ihr ein sehr nahes Verhältnis habe: der Vorplatz mit alten Mörsern, die Zugbrücke zu dem äußeren Tor (mit einem neckischen Erkerchen darüber, aus dem man dem bösen Feind glühendes flüssiges Blei auf die Köpfe schüttete), der Blick durch eine vergitterte Tür auf eine reiche Sammlung von prächtigen Rüstungen, Waffen und stürm- und kämpfzerfetzten Standarten, die Lutherstube, in der Luther als "Junker-Jörg" nach der Verbannung durch den Reichstag in Worms Unterschlupf gefunden und das große Werk der Bibelübersetzung vollbracht hatte. Besonders anziehend für linsereinen war aber jene Stelle, wo an der Wand das Tintenfaß zerschellt war, das er gegen den Teufel geschleudert haben soll. Aber von dem eigentlichen Fleck war an der Wand schon längst nichts mehr zu sehen; den hatten souveniersüchtige Besucher immer wieder abgekratzt, so oft man ihn erneuert hatte, und dann hatte man es endgültig aufgegeben. So sehenswerte Räume, wie den berühmten Festsaal oder die Kemenate der hl. Elisabeth, waren nur mit einer Führung zu betreten - und die kostete Geld.
Vom Markt aus kam man in einer Viertelstunde auf den "Meilenstein", einer Ruine, bei der nur bescheidene Reste von Grundmauern von Moos überwuchert noch aus dem Boden schauten. Von da war die Wartburg fast zum Greifen nah; außerdem hatte man einen weiten Blick über die Höhen des Thüringer Waldes -ein sehr romantischer Platz, den ich oft einmal schnell aufsuchte, war es doch kaum mehr als eine Viertelstunde oberhalb der Stadt.
Dem Geburtshaus Bachs am Frauenplan, einer "Lutherstube" hinter der großen Georgenkirche am Markt, an dieser Stelle mit einem holprigen Kopfsteinpflaster versehen und daher "Lutherpflaster" genannt, konnte ich nicht viel abgewinnen, destomehr aber der Kirche selbst, d.h. ihrer großartigen Orgel. Sie hatte 5 Emporen: von der obersten konnte man in das riesige Werk mit Hunderten von Pfeifen und 5 Manualen hinein und dem Organisten zusehen. Bei allen Musiken ist es mir nicht nur um die Klänge, sondern auch um den Künstler und die Organisten gegangen. Es war aber auch zugleich amüsant, wie der Herr Hopf bei der Bedienung der Baßpedale auf einem Kissen auf der Orgelbank hin und herflitzte (war es mehr des Tempos wegen oder der Schonung seiner Hosen?) Wenn man unten im Schiff auf den Steinbänken mit Holzsitzen saß und zuhörte, konnte man die abgrundtiefen 32-Fuß-Pfeifen sogar mit dem "Hintern" wahrnehmen!
Um den fast quadratischen, sehr großen und leicht ansteigenden Marktplatz gab es einige weitere mich ansprechende Baulichkeiten, nicht etwa das Rathaus oder das großherzogliche Schloß, ein langweiliges schmuckloses Geviert mit einem Tor zu einem eben solchen kahlen Innenhof, sondern das große Papiergeschäft von "Matheus" (nicht "ä-u", sondern "eu" gesprochen!). Es hatte vier große Schaufenster und innen eine Theke den ganzen Raum entlang. Was es da nicht alles gab: Schreibpapier jeder Art, Bunt- und Transparentpapier, Stifte, Radiergummis, Farben und Pinsel, Ausschneidebogen, aus denen man Häuser, Burgen und Schiffe zusammenkleben konnte und - nicht zu vergessen -die "Liebesbilder", auch in ganzen Bogen mit Sternchen, Herzen und Blumen. Am meisten hat es mir bis auf den heutigen Tag schneeweißes unbeschriebenes Papier angetan, - und der Gedanke tut mir wohl, daß ich auch hier gleich ein frisches Blatt einlegen muß und mich an seinem Anblick erfreuen kann.
Bemerkenswert, für mich, war das Nicolai-Tor", ein Überbleibsel der alten Stadtmauer, von einem Turm gekrönt und mit einem Torbogen, durch den die Straßenbahn zum Bahnhof fuhr. (Daß sich darüber noch eine sehr hübsche Trinkstube befand, habe ich erst viele Jahre später mitgekriegt.)
Überhaupt, die "Trambahn" von Eisenach: sie hatte sogar mehrere Linien: vom Markt, außer der zum Bahnhof, eine zum sehr außerhalb liegenden Friedhof und eine weitere bis ganz zum Ende des "Marientals". Wenn im Sommer großer Jahrmarkt war, für den ich immer 50 Pfennig erhielt, stand ich jedesmal vor einem schweren inneren Konflikt: sollte ich mir für das ganze Geld noch mehr Zinnsoldaten kaufen, immer 10 Stück verschiedener Arten zu 10 Pfg., die Spanschachtel - oder eine ausgiebige Rundfahrt mit der Straßenbahn machen? Im Sommer und bei schönem Wetter war das nämlich besonders reizvoll: dann führte sie Anhänger ohne alle Seitenwände mit sich, mit Sitzbänken hintereinander und einem den ganzen Wagen entlanglaufenden Trittbrett, also ganz unbehindertem Ausblick auf die hübsche Landschaft mit viel Grün in den Außenbezirken. Aber auch von besonderen winterlichen Freuden ist zu berichten.
Dazumal gab es noch reichlich Schnee, manchmal über einen Meter in einer Nacht, so daß man morgens den Weg zur Haustür erst frei schippen mußte und der Schnee auf beiden Seiten einen fast mannshohen Wall bildete.
Wegen des bergigen Geländes gab es auf den Straßen in die Stadt hinunter die prächtigsten Rodelbahnen, manche mehrere hundert Meter lang; die beste befand sich in einem Taleinschnitt vom Flachen ganz unten bis fast hinauf zur "Wartburg". Die Fahrstraße verlief zunächst auf der linken Seite und wechselte dann ziemlich oben auf die andere über. Genau über der Mitte des Tales war ein Podest angelegt worden mit Bänken unter einer riesigen "Bis-marckeiche" mit einem sehr schönen Blick auf die Stadt hinunter, Hier war auch der Start für das Rodeln.
Wegen der Anschüttung ging es steil bergab, und man bekam gleich tüchtig Fahrt. Auf dem ersten Drittel der Strecke gab es eine etwa 2 m hohe Bodenwelle - eine richtige "Sprungschanze", die manchen Schlitten nicht gut bekam, besonders den "Käsehitschen" - Eigenbau aus zwei vorn abgerundeten Brettern mit Blechstreifen aus alten Konservendosen beschlagen und einem Sitzbrett darüber-, die gingen allzuoft in die "Knie", waren aber schnell wieder repariert. Ein weiteres Wintervergnügen was das Schlittschuhlaufen auf dem "Prinzenteich" am Anfang des Marientales. Es gab dort sogar einen Musikpavillon, in dem am Sonntag Konzert war, während man seine Kreise so elegant wie möglich zog. Heute hat man ja komplette Schlittschuhe, d.h. mit dem Stiefel in einem, damals trug man normale Schnürschuhe, und der eigentliche Schlittschuh wurde so gut wie möglich mit Riemen gehalten und Krallen um den Absatz, denen mancher davon zum Opfer gefallen ist.
Es gab so gut wie keine Autos, und so kamen die Landleute mit Pferdeschlitten zum Markt mit lieblichem Geläut von Schellen an den Pferdegeschirren. Weniger schön klang es, wenn bei Tauwetter die eisernen Kufen über das nackte Pflaster schurrten.
Da Eisenach einige Industrie hatte, gab es unter der Arbeiterschaft auch eine große Anzahl von "Sozi 's", die auch Vertreter im Stadtrat hatten und auch bei Wahlen in Erscheinung traten. Streng "national", wie auch ich war, habe ich einmal versucht, dem sozialistischen Kandidaten, einem Herrn "Leber", dadurch schweren Schaden zuzufügen, daß ich bis zur Wahl jeden Genuß von "Leberwurst" strickt abgelehnt habe!
Einmal gab es einen - unpolitischen - "Milchkrieg": der Preis für einen Liter Milch war plötzlich von 20 auf 24 Pfennig heraufgesetzt worden! Unter den Hausfrauen gab es einen richtigen Aufstand, ein Boykott wurde ausgerufen und auch eingehalten. Da kam ein gewitzter Händler auf die Idee, seine Milch für 22 Pfg. anzubieten und damit die Kundschaft, die sie ja schließlich brauchte, auf sich zu ziehen; die anderen schlössen sich wohl oder übel an, und der Krieg wurde mit Blessuren auf beiden Seiten beendet.
Ich hatte in unserer Nähe gleichaltrige Kameraden gefunden. Wir besuchten zwar nicht dieselbe Schule, hatten aber den gleichen Weg. Um uns die Zeit zu verkürzen, hatten wir uns ein neckisches Spiel ausgedacht: abwechselnd mußte man sich für die anderen eine recht schreckliche und völlig hoffnungslose Lage ausdenken, und die sollten dann versuchen, einen Ausweg zu finden. Die Lösungen waren meist nicht ganz astrein, das Spiel aber kurzweilig.
Der eine von Ihnen, Siegfried, wohnte nur zwei Häuser weiter oben auf der gleichen Seite unserer Straße (also über die schon erwähnte Wiese) für mich "hintenherum" leicht zu erreichen. Ein etwas älterer Junge lebte in der auf unser Haus zulaufenden Amalienstraße: aber es war eine nur kurze Beziehung. Im Keller hatte sein Vater eine gut eingerichtete Werkstatt; was uns in ihr aber am meisten anzog war, daß er seine Jagdpatronen dort selber stopfte und es dort also Schießpulver gab. Als wir eines Tages ein bißchen damit geko-kelt hatten, kam uns eine neue Idee. Ich besaß eine hübsche kleine Nachbildung jener Messingkanonen oben vor der Wartburg: man konnte sie mit sog. "Futschern" laden und die daraus abschießen, kurze mit etwas Pulver geladene Papp-röhrchen hinten mit einer kleinen Zündschnur: die steckte man von vorn in das Rohr soweit hinein, bis sie hinten hinausschaute und angezündet werden konnte, Es gab keinen richtigen Knall, sondern der Futscher flog nur zischend heraus. Dieser schwache Effekt genügte uns aber durchaus nicht. Also stopften wir das ganze Kanonenrohr voll Pulver, drückten es fest hinein und verschlossen es auch noch mit so einer kleinen Zündkapsel aus einer Schreckschußpatrone (von der Wirkung einer so verdammten Ladung ahnten wir nichts).
Es gab eine gewaltige Detonation, das Bronzerohr zerbarst in lauter kleine Stücke - ein Teil davon steckte in den Daumenballen meines Freundes. Viel war nicht passiert; es blutete zwar kräftig, und zusammen mit dem schwarzen Ruß auf der Haut sah es im ersten Augenblick bedrohlich aus. Die auf den Krach herbeigeeilte Mutter schickte mich sofort nach Hause, gleichzeitig ihrem armen Söhnchen gebietend, nie mehr mit mir diesem ungezogenen Jungen zu spielen. Ich war zwar nicht der Anstifter gewesen, aber es scheint so, daß in solchen Fällen stets das fremde Kind der Übeltäter ist!
Eines Tages traf bei meinem Siegfried Verwandtenbesuch ein, der aus den USA zurückgekehrt war und einen kurzen Zwischenaufenthalt bis zu einem neuen Quartier machte. Es gab da einen recht cleveren Sohn, der uns seine Überlegenheit zeigen wollte, indem er uns in die Benutzung von Kaugummi einführte: gut weichgekaut, mit den Zähnen gehalten und dann zu langen Fäden ausgezogen - wir fanden nichts Unappetitliches dabei und übten fleißig.
Der junge Mann war sehr reichlich mit Taschengeld versehen und brüstete sich vor uns damit, indem er uns alle möglichen Kleinigkeiten kaufte und sogar Geld zusteckte - bis meine Großmutter dahinter kam, daß ich in meinen Taschen Dinge hatte, die ich mir nie hatte selbst kaufen können - und der Sache wurde schnell ein Ende bereitet; kurz darauf reisten die "Amerikaner" weiter.
Meine Großmutter war mit einer etwa gleichaltrigen Dame sehr befreundet, die mir, dem "Lausbübchen" gewogen. Sie war mit einem höheren Offizier verheiratet gewesen, dem seine erste verstorbene Frau ein Töchterchen "Viktoria" ("Vicky") hinterlassen hatte. Die Ehe ging zwar bald auseinander, aber der leichtlebige Vater überließ ihr "großzügig" das Kind zur Erziehung - sie wurde ihm eine wirklich liebevolle Mutter -, um seine wiedergewonnen Freiheit zu genießen.
Wir Kinder freundeten uns sehr an, ja waren ein Herz und eine Seele und schrieben uns sogar in aller Unschuld richtige kleine Liebesbriefe in winzige Wachs-tuchheftchen (natürlich von "Matheus" am Markt).
Da meine Großmutter nur selten ausging, schaute Tante Emmi öfter bei uns herein und ergötzte uns durch ihre temperamentvollen Erzählungen von ihren Erlebnissen. In der Jugend selbst Schauspielerin gewesen, erinnerte mich ihre Art zu sprechen ein wenig an die berühmte "Adele Sandrock" in ihren späteren Jahren, sehr energisch, aber keinesfalls bärbeißig. Sie hatte ein Herz für Menschen in Armut und Not und in dieser Hinsicht war sie Mitglied des Eisenacher Stadtrats geworden. Sie war dort ebenso von allen geachtet, wie auch ein wenig gefürchtet. Es machte ihr garnichts aus, die sie zu der deutschnationalen Fraktion gehörte, auch einmal mit den "Sozi 's" zu stimmen, wenn es ihr Gerechtigkeitssinn und ihre Hilfsbereitschaft verlangte. Als schließlich einzigen Lebensgefährten hatte sie einen Pudelhund "Mohrchen", und ohne Widerspruch nahm sie den in die Sitzungen mit und plazierte ihn unter ihrem Stuhl, wo er sich allerdings musterhaft verhielt.
Meine Großmutter teilte ihre soziale Einstellung, und deshalb sei die folgende Geschichte von "Frau Friedrich in Eisenach" erzählt. Die war ein älteres Frauchen in sehr ärmlichen Lebensumständen, und es hatte sich herausgestellt, daß sie Anspruch auf eine kleine zusätzliche Rente hatte. Meine Großmutter drängte sie also, einen entsprechenden Antrag zu stellen, erhielt aber stets als Antwort: "Wenn der liebe Gott will, daß ich eine bekomme, dann auch ohne Antrag"! - und dabei blieb sie stur. Das ärgerte meine Großmutter gewaltig, schließlich riß ihr der Geduldsfaden, und stellte den Antrag von sich aus - und siehe da, er wurde genehmigt: "Jetzt fehlt nur noch, daß die Alte triumphiert, sie hätte doch Recht gehabt!"
Wie so erschreckend vieles ist diese Geschichte auch auf meine Nachkommen übergegangen und fast zum Sprichwort in der ganzen Familie geworden. Als ich neulich eine Tochter fragte, ob sie im Lotto spiele, bzw. ob nicht, konterte sie anstiellevon Vernunftsüberlegungen trocken: "Schon Frau Friedrich aus Eisenach hat doch gesagt....".
Kurz vor Weihnachten traf eine schreckliche Nachricht ein: Vicky's Vater hatte von neuem geheiratet, und anscheinend auf Drängen seiner jetzigen Frau verlangte ernun, daß sein Kind nun wieder zu ihm zurückkehrte und zwar sofort.
Da er gesetzlich im Recht war, mußte es Hals über Kopf noch kurz vor dem Fest seine so sehr geliebte "Mutter" verlassen - es war herzzerreißend! Aber es kam noch schlimmer: jede Verbindung wurde rigoros unterbrochen und Briefe in beiden Richtungen unterbunden; die beiden haben sich nie wiedergesehen. Erst nach vielen Jahren hat mich Vicky bei einem Aufenthalt in Berlin aus ihrem Hotel angerufen , und ich habe sie dort zum Tee aufgesucht; aber das Wiedersehen war sehr kühl; zu viel Zeit war inzwischen vergangen.
Mein Leben wurde nun sehr stark dadurch beeinflußt, daß in feiner Nähe ein neuer, mir gleichaltriger Knabe auftauchte, aus dem, um es vorwegzunehmen, mein einziger wirklicher Freund nicht nur für meine Jugend, sondern für das ganze Leben bis heute geworden ist.
Eine gräfliche Familie war aus Italien zugezogen, wo der Graf, Kpt.Z.See, bis dahin Militärattaché gewesen war. Da seine Pensionierung nicht fern war, hatte sich seine Familie in dem idyllischen Eisenach niedergelassen und eine Villa ein Stück oberhalb von uns bezogen, von deren Garten aus man einen weiten Blick über die Stadt bis zu Wartburg hatte. Die reizende und noch recht jugendliche Gräfin hatte mich, als "Tante Erika", sehr bald ins Herz geschlossen; ich ging in dem Haus ein und aus. Für mich war das Leben inmitten einer vollständigen Familie, anstatt nur bei zwei alten, wenn auch liebevollen Damen, ein ganz neues, beglückendes Erlebnis, umsomehr als meine Großmutter es mir gönnte und sich garnicht zurückgesetzt gefühlt hat.
Mein neuer Freund "Kurt" war hochbegabt, fast genial und für mich ein Vorbild.
Alle und alles flogen ihm zu; an dem humanistischen Gymnasium, das er besuchte, war er sofort Klassenbester und der Liebling aller Lehrer.
Seine um ein Jahr jüngere Schwester "Karin" war ein sehr hübsches und liebrei-zendes Mädchen, und so blieb es nicht aus, daß ich mein empfindsames Herz an sie verlor. Es war jene kindhafte Liebe von großer Innigkeit (mein Geheimnis, wie ich meinte), die ganz im Innersten für ein ganzes Leben von Bestand geblieben ist. Es gab da auch noch einen kleinen Nachkömmling; aber wegen des Alters-unterschiedes zu uns, nahmen wir wenig Notiz von ihm: dafür war er der beson-dere Liebling seiner Mutter. Mir ist von ihm eigentlich nur in Erinnerung, daß er einmal als Nackedei mit einem Blätterkranz auf ein Fäßchen gesetzt worden war, als ein wirklich reizender kleiner "Bacchus" - wie wir selber zugeben mußten.
Auch nachdem ich als Kadett nur noch auf Urlaub nach Eisenach kam, verbrachte ich viele schöne Stunden bei "Posais". Eines Tages zogen sie fort nach Kassel, und dort habe ich sie einmal für einige Tage besucht; aber dann trennten sich unsere Wege für lange Zeit. In den dreißiger Jahren begegneten wir uns wieder in Berlin in einem sehr schönen eigenen Haus in Wilmersdorf (es fiel den Bomben zum Opfer); aber sehr bald gerieten wir uns wieder aus den Augen. Lange nach dem 2. Weltkrieg bekam ich wieder Verbindung zu meinem Freund, inzwischen nach verschiedenen Auslandsaufenthalten Professor am Goetheinstitut in Saloniki und dort vor einigen Jahren in den Ruhestand getreten. Jetzt stehe ich noch regelmäßig brieflich mit ihm in Verbindung; ein paarmal haben wir uns sogar während seines Urlaubs in München für ein paar Stunden getroffen. Auch seine Schwester lebt noch, ziemlich vereinsamt und unter gesundheitlichen Beschwerden leidend in Berlin - Briefe, meist zu den Festtagen, bilden leider nur noch ein loses Band.
Der weite Weg in die Stadt hinunter und der steile Anstieg die Hedwigstraße hinauf wurden für meine Großmutter und Tante, die bereits an die 60 waren, zunehmend beschwerlicher, und so wurde von neuem umgezogen - in die "Karthäuserstraße". Sie lief unmittelbar dem Fuße einer Anhöhe entlang, parallel zu der nordsüdlichen Hauptachse durch die Stadt. Die geräumige Wohnung (mit "Bad") lag in der 2. Etage eines 3-stockigen Mietshauses, nach hinten auf einen großen "Bauhof" zu (ein idealer Spielplatz für uns Jungen) aber auch mit Grün von einigen großen alten Bäumen. Ober die Straße hinunter schaute man, weniger schön, auf die ausgedehnte "Felsenkeller-Brauerei". Sie trug diesen Namen zurecht, denn ihre Kellereien waren tief in den Felsen hineingeschlagen, und der lieferte das frische Quellwasser, das erst ein gutes Bier gibt. Den ganzen Tag ertönte das Poltern von Lastwagen auf dem groben Pflaster, das Scheppern zahlloser Bierflaschen, das Zischen von Dampf und das Brummen irgendwelcher Maschinen - und über allem schwebte der süßliche Geruch von "Malz": wenigstens hatte man damals meist gutschließende Doppelfenster. Der Bauhof erstreckte sich bis zur nächsten Straße und war mit ihnen durch große Flügeltor verbunden, in die kleinere Türen für die Bewohner und Fußgänger eingelassen waren. Für mich enthielt die, neue Wohnung einige bemerkenswerte Dinge. Vor dem großen Mittelfenster und dem kleinerenrechten war eine Estrade mi einem Geländer angebracht. Die linke Seite war das Reich meiner Großtante, dort stand ihr Nähtischchen mit zwei Schubladen und allerlei auch für mich interessantem Krimskrams, vor allem ein "Radeln oder "Rädeln um ausradeln von Schnittmustern; schon mein Vater und seine Geschwister hatten sich damit vergnügt, auf der Vorderkante der Schublade oben tiefe Rillen einzuradeln- und ich stand da nicht nach.
Rechts aber war mein Revier: da befand sich nämlich mein sehr geliebtes schönes Schulpult, an dem ich Schularbeiten machte oder las. Einmal hat es einem besonderen Zweck dienen müssen. Ich hatte gerade wieder einer meiner üblichen Herbst- (und Frühlings) Halsentzündungen und durfte nicht nach draußen, aber ein Kamerad hatte mich besucht. Meine Großmutte und meine Tante waren in die Stadt gegangen, und wir spielten eine Weile mit den Zinnsoldaten. Wir hatten aus dem Fenster geschaut und einen kleinen Jungen entdeckt, der direkt unter dem großen Fenster auf der Straße spielte - das brachte uns auf eine Idee. Wir banden ein kleines buntes Blechkanönchen an einen langen Zwirnsfaden von dem Nähtisch und ließen ihn so nah hinab bzw. zogen ihn so schnell wieder hoch, daß der Kleine unten vergeblich danach schnappte. Und da kam uns ein noch glorioserer Gedanke: Wir holten uns aus der Küche ein Schaff kaltes Wasser - und just in dem Augenblick, indem der Junge sehnsüchtig hinter der Kanone emporschaute, schütteten wir ih das ganze Wasser auf den Kopf! Er machte ein fürchterliches Geschrei und seine darauf herbeigeeilte zeternde Mutter kam herauf, um sich zu beschweren; aber wir ließen sie ruhig klingeln. Und da mußte es einfach passieren, daß meine Großmutter genau in diesem Augenblick nach Hause kam! Es gelang ihr, die Frau zu beruhigen, entfernte schnellstens meinen Spielkameraden , schalt mich nicht aus, sondern gab mir eine Strafarbeit auf: Aus meinem Lesebuch eine lange, lange Geschichte säuberlich abzuschreiben mit dem sinnvollen Titel "Das Gewitter auf dem Lande (!)".
Auf der Hofseite, vom Schlafzimmer meiner Großmutter aus zu betreten, befand sich eine geräumige, gedeckte Holzveranda - an heißen Sommertagen in ange-nehmer kühler Aufenthalt (wir werden ihm später unter ganz besonderen Umständen wieder begegnen.
Von besonderen Ereignissen in diesem ruhigen Städtchen wie Schütze fest und Jahrmarkt (d.h. also für einen Jungen) gab es noch Wichtiges: an einem besonders schönen Frühlingsmorgen wurden wir sofort nach Hause geschickt, Proviant zu holen und uns sofort wieder einzufinden zum "Maigang" - heute sagt man allgemein, aber nüchtern "Wandertag" dazu. Es wurde auch nur gewandert, denn bei der Nähe der herrlichsten Ziele rund um Eisenach bestand für Fahren kein Bedürfnis. Eingekehrt wurde kaum jemals,, denn das kostete nur unnötig Geld, und wenn es auch für eine Flasche "Quatsch", eine gelbliche süßliche Limonaden-Brühe ohne Kohlensäure für nur wenige Pfennige gewesen wäre. Man schleppte sich auch nicht mit Flaschen von zu Hause ab, denn da waren im Walde diese Quellen mit dem so klaren und frischen Wasser - für mich, trotz Wohlgefallens an einem "gutenTröpfchen" noch immer das köstlichste aller Getränke. Man brauchte nur einen Becher, und den hatte jeder bei sich. Auf meinen war ich besonders stolz; nicht nur daß er in einem ganz flachen Samtetui steckte, sondern versilbert war und aus einer Anzahl von Ringen bestand, so daß man ihn auseinanderziehen und wieder zusammenschieben konnte.
Erst am Spätnachmittag kam man hungrig und ermüdet, mit einem leichten Sonnenbrand und Blasen an den Füßen, aber hochbefriedigt wieder an mit der Aussicht, daß man am folgenden Tag erst zur dritten Stunde zum Unterricht zu kommen brauchte.
Als mein netter Onkel Ernst gerade einmal bei Kasse war, schenkte er mir ein funkelnagelneues Fahrrad Marke "Excelsior" mit Rücktrittbremse und Freilauf, dazumal noch ein Luxus (von dem Rad wird noch zu reden sein).
Wahrscheinlich durch einen Mitschüler war ich mit dem "Wandervogel" in Berührung gekommen, jener naturverbundenen, sangesfreudige (Zupfgeigenhansel) Jugendbewegung der damaligen Zeit, die mich wegen ihrer Romantik sogleich ansprach.
Schon wegen der herrlichen Umgebung von Eisenach bestand dort eine größere Gruppe mit einem ganz ausgezeichneten Führer, ein hagerer, hochaufgeschossener junger Mann mit einer großen Hakennase in einem anson-sten sehr freundlichen Gesicht und einem großen Adamsapf71, der an seinem langen Hals beim Sprechen und Singen lustig auf und ab tanzte, äußerlich ein richtiger "Landsknechtstyp", deruns Jungs zu begeistern wußte.
Die Gruppe besaß im Landgrafental auf einer freien Wiese inmitten des Waldes ein hübsches kleines Holzhäusichen mit nur einem einzigen aber großen Raum.
In einem Gärtchen darum herum blühten im Frühjahr und Sommer Flieder- und Rosenbüsche. Dorthin zogen wir oft des abends zum Singen, und wenn dann auch noch der Mond schien, war es einfach wildromantisch! Aber, das war noch nicht alles.
Wenn man am Ende des Marientales auf die Höhe und dann wieder hinabgestiegen war, gelangte man im Talgrund zu einem kleinen Dorf "Unkeroda": dort besaß der Wandervogel ein ehemaliges Bauernhaus mit viel Platz zum Aufenthalt und zum Schlafen und mit einer Küche mit einem großen Backsteinherd mit einem riesigen rußigen Rauchfang darüber. Dort verbrachten wir manches Wochenende; einmal haben wir dort sogar Weihnachten gefeiert. Am heiligen Abend bei Schnee und sternklarem Winterhimmel zogen wir zu einer einzelstehenden Tanne, die vorher mit Kerzen geschmückt worden war. Wir bildeten einen Kreis darum und sangen zu Gitarrenbegleitung all die wunderschönen Weihnachtslieder. Dann gab es ein richtiges Festmahl mit Kaninchenbraten und Thüringer Kartoffelklößen und einem milden Punsch.
Mein letztes Erlebnis beim Wandervogel fiel zusammen mit meinem Abschied aus Eisenach und soll später erzählt werden.
Dann kam das Jahr 1914 - und damit der Ausbruch des 1. Weltkrieges. Gewiß hatte er schon eine ganze Weile gedroht, aber ich hatte davon nichts mitbekommen. Damit hatte auch nichts zu tun, daß ich am 1. Juli während der großen Ferien friedlich auf unserer Veranda an dem rechteckigen Gartentisch mit einer Platte aus einzelnen Holzleisten und mit der unvergeßlichen Tischdecke, abwechselnd rot und blau kariert, saß und mich damit vergnügte, die weißen Innenflächen der Titelbuchstaben unserer Zeitung sehr patriotisch sorgfältig schwarz-weiß-rot ausmalte. Da kam meine Großmutter aus der Stadt und sagte nur kurz: "Denk dir, Junge, es ist Krieg!" Sie war anscheinend besonders beunruhigt, daß Deutschland "eingekreist" sei. Ich verstand das zunächst nicht, denn meine Geographie von Europa war mir durcheinandergeraten: ich meinte wir lägen da, wo in Wirklichkeit Frankreich liegt, d.h. mit der ganzen Länge im Westen an der offenen Meeresküste. Ich mußte mir meinen Schulatlas holen - und der berichtigte meinen Irrtum schnell.
Schon in den nächsten Tagen kam von meinem Vater die tröstliche Nachricht, daß er buchstäblich in letzter Minute aus Paris über Belgien nach Deutschland entkommen war. (Als Auslandskorrespondent hatte er die Entwicklung schon länger vorausgesehen und meine Stiefmutter mit den Kindern rechtzeitig zu ihrer Mutter nach Kronberg im Taunus geschickt). Er hatte sich als Reserveoffizier sofort bei der nächsten Garnison in Frankfurt gemeldet und war sogleich als Kompanieführer nach einer Ersatzeinheit nach Westen abkommandiert worden.
Nach nur einigen Tagen Einsatz erhielt er, was man einen Heimatschuß nannte, d.h. einen Prellschuß auf den Oberschenkel, der aber im wesentlichen durch ein kräftiges Jagdmesser in der Hosentasche abgefangen worden war und nur einen starken Bluterguß verursacht hatte: 14 Tage Lazarett und dann noch 4 Wochen Heimaturlaub, ehe er wieder zur Truppe zurückkam. Aber ganz ist er nicht hingekommen: auf dem Wege zu ihr in starkem feindlichen Feuer erhielt er, schon am Grabenrand angekommen einen glatten Oberschenkeldurchschuß und fiel in ihn hinein; diesmal dauerte es mit der Heilung etwas länger - und sein Bedarf an "Infanterie" war gedeckt.
Da gerade die Rede von "Kronberg" war, so will ich von meinem Besuch dort und zwei für mich bemerkenswerten Ereignissen erzählen.
Dieser ländliche Ort liegt am Fuße des Taunus, dessen Boden ja größtenteils vulkanischen Ursprungs ist; infolgedessen gab es dort zahlreiche Mineralquellen, über eine Anhöhe kam man ins "Krontal", und dort waren drei ganz verschieden schmeckende Quellen unter dem Dach eines offenen Pavillons vereinigt und für jederman kostenlos zugänglich. So war es im Sommer üblich, gegen Abend, wenn die Hitze schon nachgelassen hatte, mit einer Schultertrage, an denen sich Behälter für Gefäße und Flaschen befanden, hinunter zu steigen, erst einmal gründlich den Durst zu stillen und dann Vorrat für den kommenden Tag mit heimzunehmen.
Im Taunus selbst befand sich auf halber Höhe ein großes Römerkastell, die "Saalburg", das Kaiser Wilhelm vollständig hatte wiederaufbauen lassen. Besonders eindrucksvoll an dieser ausgedehnten Anlage war eine Halle, in der allerlei Geräte aus der Römerzeit (z.T. restauriert) ausgestellt waren und einem Hochachtung vor dem einstigen hohen technischen Stand abnötigten:
Allerlei richtige Maschinen mit Zahnradgetrieben (aus Holz), sehr fein gearbeitete medizinische Instrumente wie Skalpelle, verschiedenste Formen von Greifzangen usw.
Zu dem Kastell führte durch den Wald eine Zahnradbahn hinauf, und ich sehe heute noch das Reh aufrecht auf den Gleisen stehen, seelenruhig abwartend, bis der Zug rücksichtsvoll vor ihm zum Stehen gebracht worden war, und dann gemächlich davonschritt.
Zu dem Haus der Eltern meiner Stiefmutter gehörte ein großer Obstgarten, in dem es eine Kuriosität gab: ein Baum der auf jedem der drei Hauptäste mit verschiedenen Früchten aufgepfropft worden war: blaue Pflaumen, grüne Reineclauden und gelbe Mirabellen! Nachdem ich mich reichlich daran gütlich ge-tan hatte, stieg ich herab und verspürte großen Durst und trank eine Menge Wasser: ach, du meine Güte - nun würde ich gewiß sterben müssen? Nichts dergleichen geschah, denn die Früchte waren nicht grün, sondern vollreif gewesen.
Fliegertruppe Neu : Hans meldete sich
Zu der Zeit wurde eine Fliegertruppe neu geschaffen, und Offiziere konnten sich freiwillig dazu melden. Sehr viele kamen von der Kavallerie, da für diese für die moderne Kriegsführung, einesteils mit dem Zug zur Motorisierung, andrerseits mit dem Stellungskrieg kaum noch Verwendung bestand.
Aber auch für meinen alten Herrn war das etwas, er meldete sich und wurde angenommen.
Damals gab es den Luftkampf und die Jagdfliegerei noch nicht. Das Flugzeug diente im wesentlichen der Feindaufklärung. So bestand seine Besatzung nur aus 2 Personen: Dem Flugzeugführer genannt "Emil" und dem Beobachter genannt"Franz". (Von seinem Namen stammt übrigens das in den allgemeinen Sprach-gebrauch eingegangene Wort "sich verfranzen" = sich verirren.) Mein Vater erhielt also zunächst eine Ausbildung zum Beobachter in einem Ort in Anhalt, dessen Namen ich vergessen habe, aber nicht, daß ich dort einmal Weihnachten verlebte und eine Feier in einer der ausgeschmückten Flugzeughallen. Es gab für einen Jungen auch sonst dort allerlei zu sehen, aber im übrigen erinnere ich mich nur noch daran, daß ich eine große Blechkanone, eine "dicke Berta", Nachbildung des damals berühmten 42 cm Geschützes, geschenkt erhielt. Mein Vater hatte sein Quartier bei einem alten Tischlermeister und der eine Drechselbank, auf der er mir einige hübsche Holzgranaten anfertigte, und deshalb hier Erwähnung verdient.
Zunächst wurde mein Vater zur Feldfliegerabteilung 54 nach der Ukraine kommandiert, aber das war ihm zu wenig "Krieg" und er wechselte zu einer Bomberstaffel mit den dicken "Gothas" zum Mittelabschnitt über.
Inzwischen war die Jagdfliegerei aufgekommen mit so berühmten Namen wie Boelcke, Immelmann, Udet und Richthofen, und dieses Geschäft entsprach sehrseinen "jagdlichen" Neigungen. Also wurde er zum Flugplatz "Gotha" zur weiteren Ausbildung versetzt und war dort als derzeit dienstältester Offizier sogar Platzkommandant. Wegen der Nähe zu Eisenach, habe ich ihn dort öfter besuchen dürfen und mit ihm morgens auf den Platz fahren. Bei gutem Wetter war das schon reichlich früh, denn es war noch eine ausgesprochene "Schönwetter-Fliegerei".
Mitte 1916 wurde meinem Vater die Jagdstaffel 5 in der Nähe von Cambrai unterstellt. Durch den Eintritt Amerikas in den Krieg kam es sehr bald zu einer starken Luftüberlegenheit des Gegners mit immer höheren Verlusten auf der deutschen Seite - am 4. Mai 1917 fiel auch mein Vater. Die Staffelführer waren nämlich dadurch besonders gefährdet, daß sie in der Verspannung ihrer Maschine einen langen roten Wimpel tragen mußten, und der zog natürlich die Gegner zuerst auf sie. So ist es erklärlich, daß bei unserer Korrespondenz mit der Staffel jedesmal ein neuer Staffelkommandant unterschrieb, weil sein Vorgänger inzwischen auch gefallen war. Mein Vater wurde, von seinen Kameraden sehr betrauert, zunächst auf dem örtlichen Friedhof in Beauvais an der Straße von Cambrai nach Peronne beigesetzt, ist dann aber viel später von der Deutschen Kriegsgräberfürsorge auf einen Heldenfriedhof in der Nähe umgebettet worden.
Ich bin im 2. Weltkrieg zwar einigemale beruflich in Nordfrankreich gewesen, habe es aber nie einrichten können, mich nach dem Grabe umzusehen. Erst als wir einen genauen Lageplan erhalten hatten, ist unsere jüngste Tochter Maria während eines Urlaubs in der Normandie dort gewesen, und wir haben nun we-nigstens eine Aufnahme der sehr schönen Anlage und der Grabstätte.
Mein Vater war bei den sehr seltenen und kurzen Gelegenheiten, bei denen wir uns begegnet sind, und in seinen Briefen an mich, stets sehr liebevoll, aber das reichte nicht, ein engeres Vater-Kind-Verhältnis zu schaffen. Erst als ich selber eine eigene große Familie mit Kindern hatte, ist mir aufgegangen, was ich selbst in der Kindheit hatte entbehren müssen. Aber etwas muß dennoch in mir zwar verschüttet, aber lebendig geblieben sein: ich begann, meinem Vater im Traum zu begegnen mit einer starken Gefühlsaufwallung.
Großmutter Charlotte:
Es wäre höchst undankbar gegen meine liebe- und so verständnisvolle Großmutter, nicht ausdrücklich zu sagen, wie sehr es ihr gelungen ist, mir dennoch eine glückliche Kindheit zu bereiten und mir aus ihrer Weisheit und Lebenserfahrung Werte zu vermitteln über das hinaus, was innerhalb eines Elternhauses möglich ist. Im Zusammenhang damit muß ich unbedingt über sie sprechen.
Sie war nicht nur im Alter noch eine stattliche Frau, sondern geistvoll, weltoffen und hatte viel Humor. Was das erste anbelangt, so hatte sie sehr schönes und reiches und blondes Haar, das ich besonders bewunderte, wenn ich ihr beim Frisieren zuschauen durfte. Das Frühstück pflegte sie im Morgenrock einzunehmen, aber danach zog sie sich zurück, um sorgfältig Toileftte zu machen. Sie setzte sich dann auf einen ziemlich hohen Schemel vor ihr "Büro". Das war dazumal ein großer schöner Schrank mit Schubfächern im Unterteil, einer aufklappbaren Schreibplatte, dahinter ein offenes Fach mit einem Spiegel und seitlich rechts und links vielen Schublädchen (solche Möbelstücke sollen manchmal ein "Geheimfach" besessen haben - dieser aber hatte leider keins.) Wenn sie sich nun kämmte, reichte ihr Haar immernoch bis zum Fußboden hinab!
Sie steckte voller Geschichten und erzählte auch gern; vieles davon ist an mich übergegangen - und ich bin immer in Verlegenheit, ob ich etwas selber erlebt oder nur von ihr gehört habe. Die folgende Geschichte ist aber zweifelsohne eine Erzählung.
In ihrer Mädchenzeit war eine sehr alte Tante, als ihr Mann verstorben war, aus den USA zurückgekommen und hatte in der Familie Aufnahme gefunden; die Asche ihres Mannes hatte sie in einer Urne mitgebracht, und die stand in dem offenen Fach ihres Büros. Nun hatte ihr der Arzt zur Kräftigung Starkbier verordnet, aber sie war schon ein bißchen vergeßlich, ob sie ihr Bier schon getrunken hatte - und trank dann noch eins - und bekam einen Schwips. Dann setzte sie sich vor ihr Büro und schluchzte: "Wenn ich nur könnte, würde ich meinen Emil mit den Nägeln aus der Erde kratzen!" Und dabei stand der Emil, bzw. seine Asche vor ihr in der Urne. Das hat nicht nur damals die losen Mädchen erheitert, sondern tat dies beim Erzählen bei meiner Großmutter immernoch.
Meine Großmutter litt an einer etwas schwachen Lunge und mußte bei ungünstiger Witterung das Haus hüten. Um sich wenigstens etwas Bewegung zu machen, pflegte sie nach ihrer Toilette eine Weile zwischen dem Eßzimmer und dem Salon hin und her zu wandern. Da waren die Wände fast vollständig mit Familienbildern, Ölgemälden, Stichen, Radierungen usw. bedeckt.
Zu den Aufgaben meiner Groß-tante Anna, ihrer Schwester, die ihr ganzes Leben bei ihr geblieben war, den Haushalt geführt und auch noch die Kinder versorgt hatte, damit sie ungestört sich ihrer Schriftstellerei widmen konnte, gehörte das "Staubwischen" im Salon.
Dies bewerkstelligte sie mit einem "Federwisch", ein dünner Rohrstock mit einem Büschel Hahnenfedern. Damit fuhrwerkte sie ziemlich summarisch über die Bilder - ein mehr "symbolischer" Akt, weil der Staub nur aufgewirbelt wurde und sich dann wieder häuslich niederließ. Jeden Morgen, sobald meine Großmutter den Raum betrat, rief sie: "Annchen, die Bilder hängen schon wieder schief!" Ich mußte das so ausführlich berichten, weil ich für mein ganzes Leben davon ein Trauma mitschleppe: wo und wann immer ich einen Raum mit Bildern an der Wand betrete, sehe ich als erstes nicht was sie darstellen, sondern ob und daß sie "schief" hängen! Meine Großmutter schriftstellerte also und schrieb Unterhaltungsromane und Novellen, wie es damals auch andere Damen der Gesellschaft taten, und es wurde auch einiges gedruckt. Im Anfang arbeitete sie an einem "Stehpult" (wie auch der "Kollege" Goethe: dies wurde für gesünder gehalten, als Schreiben im Sitzen in gebückter Haltung, außerdem konnte man sich erholen durch Umhergehen und dabei nachdenken). Eines Tages aber leistete sie sich den Luxus einer kleinen Schreibmaschine, einer "Blickensderfer" (Blickendorfer ?). Dieses ziemlich wackelige Gerät hatte sogar drei Umschaltungen: kleine, große
Buchstaben u n d Zeichen, was die Gelegenheit zu Tippfehlern beträchtlich vermehrte. Für uns anderen was das Maschinchen natürlich "tabu", allerdings machte meine Großtante um alles Technische sowieso einen großen Bogen: Ich selbst hatte ganz im Gegensatz zu heute - noch kein Interesse daran; immerhin durfte ich das kleine Farbröllchen (anstelle der späteren Farbbänder) mit einer scheußlichen violetten Tinte tränken, die man nur mit großer Mühe wieder von den Fingern abkriegte.
Zu meinen verschiedenen "Halb"begabungen gehört auch die Musik, offenbar Familienerbgut. Meine Großeltern waren beide sehr musikalisch, insbesondere meine Großmutter hatte als junges Mädchen in Liebhaberkonzerten am Klavier mit Erfolg mitgespielt. Mein Vater hatte Violin-Unterricht gehabt und es damit ganz hübsch weitgebracht (er soll während des Feldzugs im Südosten einmal zum Spaß mit Zigeunern um die Wette gefiedelt haben). Außerdem hat er sich das Klavierspiel ganz allein beigebracht. Weil er verhältnismäßig kurze Hände besaß, hatte er sich einen eigenen Fingersatz zugelegt, von dem seine Mutter skeptisch meinte, er käme zwar damit irgendwie hin, aber zuschauen dürfte sie dabei nicht!
Sein jüngerer Bruder Kurt hat überhaupt niemals Musikunterricht gehabt, war aber der Begabteste von allen. Nach der Oper oder einem Konzert konnte er sich an seinen Flügel setzen und über Melodien daraus stundenlang wunderschön "phantasieren".
In unserem "Salon" stand ein hübsches Mahagonie-Klavier, das für mich starke Anziehung besaß und auf dem ich bald anfing, auch so ein bißchen zu phanta-sieren, allerdings weniger schön, aber zuweilen doch ganz wohlklingend; denn ich besaß ein natürliches Empfinden für den sog. "Kontrapunkt", der dem Spiel Struktur und Fülle verleiht. Das veranlaßte meine Großmutter, mir bei einem älteren Fräulein Unterricht erteilen zu lassen: dabei stellte sich bei mir bald eine störende Unart ein: noch ehe ich die Noten ganz mitbekommen hatte, hatte sich mir der Klang und das Griffbild auf der Tastatur eingeprägt, und ich spielte sogleich "auswendig" - aber wehe. Fingerfertigkeit- und Geläufigkeit?
Obwohl noch gang am Anfang, wagte ich mich schon an so schwierige Sachen, wie die "Grande Sonate Pathaique" von Beethoven oder ein "Impromptu" von Chopin, den Tönen nach zwar richtig, aber technisch reichlich mangelhaft. Vergeblich ermahnte mich meine Großmutter, fleißiger zu üben: s i e habe fast jeden Tag "geübt", je eine Stunde Tonleitern, Etüden und erst dann richtige Konzertstücke - ich entgleiste immer sehr bald ins Phantasieren, weil es eben mehr Spaß machte. Wegen meiner Faulheit und meines Weggangs wurde der Unterricht abgebrochen und nie wieder aufgenommen - ich habe es mein genzes Leben bitter bereut!!
Buch: Goldene Brücke
Eins ihrer Bücher verdient besondere Erwähnung. Von den unerfreulichen politischen Verhältnissen im Elsaß ist bereits die Rede gewesen. Sie hat sie ja 17 Jahre lang aus nächster Nähe miterlebt und aufmerksam beobachtet. Obwohl selbst "Preußin" war ihre ganze Sympathie auf seiten der Einheimischen. Da kam ihr der Gedanke, sich einmal an höhere Stellen zu wenden, die vielleicht von den örtlichen Problemen gar nichts zu wissen bekamen. Sie wählte die Form eines "Schlüsselromans", der eine "goldene Brücke" zwischen den Parteien bilden könnte - und so nannte sie ihr Buch auch. Sie ließ ein Exemplar in besonders feiner Aufmachung anfertigen und schickte es höchstpersönlich an Seine Majestät den Kaiser. Sie erhielt ein huldvolles Dankschreiben des Oberhofmarschalls aus Berlin - man kann getrost seinen Kopf gegen einen alten Hut wetten, daß es der Kaiser nie zu Gesicht bekommen hatte, und wenn schon, sich mit Sicherheit nichts geändert haben würde.
Das „Tantchen“ Anna von Ende
Nun ist es an der Zeit, auch des "Täntchens", meiner Großtante Anna, ihrer Schwester in großer Dankbarkeit zu gedenken. Sie tat nicht nur selbstlos das meiste im Haushalt, sondern ging ganz in der Familie auf. Gegenüber ihrer imposanten Schwester wirkte sie recht unscheinbar, bewunderte sie rückhaltlos und wurde ganz schön von ihr dominiert, trug dies aber mit Gelassenheit (auf ein "Ännchen, die Suppe ist schon wieder versalzen", reagierte sie mit einem trockenen "ich schmecke nichts" - "ja du, mit Deinem Lederläppchen von Zunge" entrüstete sich meine Großmutter; aber das war sehr ungerecht, denn meine Tante kochte vorzüglich.)
Sie hatte ein kleines Gesichtchen mit herzensguten Augen, ein Stuppsnäs´chen ("Kartöffelchen" nannte es meine Großmutter lieblos), einen braven Mittelscheitel, stets hochgeschlossene Blusen mit "Fichues" (Fischbeinstäbchen). Ihre einzige Schwäche war der "Kaffee" und zwar ein starker (200 mal 'rum, behauptete meine Großmutter, nämlich die Mühle). Um trotzdem gut schlafen zu können, nahm sie abends (100!?) Tropfen Baldrian auf ein Stück Würfelzucker, nach denen es in ihrem Schlafgemach dauernd roch. Zum Schlafen zog sie eine Nachtjacke an, band sich einen Seidenschal um und flocht sich das schüttere Haar in kleine Zöpfchen (Rattenschwänzchen"!). Was das Schlafen anbelangt, besaß sie eine Fertigkeit, um die ich sie immer beneidet habe.
Hatte sie mittags den Tisch abgeräumt, setzte sie sich in eine Ecke einerChaiselongue im Eßzimmer, zog sich ihre Seidenschürze über das Gesicht, damit die Fliegen sie nicht störten - und schlief auf den Glockenschlag eine Viertelstunde. Dann erhob sie sich erfrischt und kochte sich Kaffee
("200 mal 'rum"). Ihr war stets ein wenig kalt, sie trug deshalb gern ein dickes Wolltuch (wie übrigens meine Großmutter auch, das irgendwie besonders gut roch. Wenn ich einmal Fieber bekam, wurde ich darin eingewickelt und fühlte mich schrecklich wohl und geborgen). Das Täntchen hatte so sehr etwas gegen das Frieren, daß sie offen sagte: "Kinder, wenn ich mal sterbe, möchte ich verbrannt werden - ich will es venigstens einmal in meinem Leben richtig warm haben!" Der Wunsch ist in Erfüllung gegangen, aber aus einem anderen Grund: ihre Urne sollte an der Grabstätte meiner Großeltern beigesetzt werden, damit sie ihnen auch im Tode nahe wäre, die treue Seele.
"Tres faciunt collegium', "drei bilden einen Verein" sagt der Lateiner; ich gehörte ja dazu und sollte wohl auch einmal etwas über mich selber sagen.
Ich war, allgemein ausgedrückt, wirklich ein sehr "artiges" Kind, richtiger gesagt ein "gutgeartetes", denn meine guten Seiten waren angeboren und nicht eigene Leistung oder Vedienst".
Also von Natur empfindsam und gefühlsbetont, verabscheute ich alles Grobe, Häßliche und Gemeine und hatte einen offenen Sinn für das Edle, Schöne und Heitere. Ich war recht begabt auf den verschiedensten Gebieten und das gleich-mäßig. Aber auch ich habe die Erfahrung gemacht, daß es bei einem "Zuviel" an Talenten nur zu durchschnittlichen und nicht zu Höchstleistungen kommt: auch eine gewisse Genialität macht noch kein "Genie". Hierzu fällt mir immer die "Jobsiade" von Wilhelm fusch ein: "die Herren sagten mit heftigem Schütteln des Koppses - es ist nichts mit dem Kandidaten Jobses!"
Nie hätte ich es übers Herz gebracht, meine gute Großmutter mit Ungehorsam und Unarten zu betrüben, dazu lag mir ihre Liebe viel zusehr am Herzen. Besonders war bei mir ein Zug zur "Friedfertigkeit" ausgeprägt, und ich meine, in meinem Leben hat sich vielfältig das Wort CHRISTI in der Bergpredigt be-wahrheitet: Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden GOTTES Kinder heißen!"
Elektrischer Techniker
Ich besaß anscheinend eine Anziehungskraft für andere. Das hat sich in meinem ganzen Berufsleben dahin ausgewirkt, daß ich niemals um einen Vorteil habe "kämpfen" müssen: immer war im rechten Augenblick jemand da, der mir wohlgesinnt war, mir den Weg ebnete und mich förderte.
Es ist in der Tat oft so, daß Begabungen in ganz verschiedene Richtungen gehen: eine praktische, technische, naturwissenschaftliche oder eine gei-stewissenschaftliche (Dichtung, Literatur, Sprachen). Meine Neigungen waren gleichmäßig geteilt und auch die Fähigkeiten gleichmässig stark: in der Atmosphäre des großmütterlichen Hauses lagen sie zunächst in der "geistigen“ Richtung. Nichtsdestoweniger habe ich, wird erzählt, bereits mit 4 oder 5 Jahren ein Beispiel für technische Begabung gezeigt: ich hatte an einem (kalten) Zimmerofen herumgespielt und es irgendwie fertig gebracht, an einer Ofenklappe eine Schrauben-Mutter loszudrehen. Bei den anwesenden Damen erweckte diese Genialität die übliche Begeisterung und man fragte mich, was ich einmal werden möchte, und ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: "Elektrischer Techniker" - und weiß der Himmel, das bin ich von Beruf am Ende tatsächlich geworden!!"
Kadettenanstalt
Auch die zwei Treppen in der Karthäuserstraße wurden mit der Zeit zu anstrengend und es wurde nach einer Wohnung zu ebener Erde gesucht und sie auch gefunden. Doch bevor ich darüber Näheres berichte, muß von einer ein-schneidenden Veränderung 'in meinem Leben gesprochen werden.
Schon mein Vater, wie auch seine beiden jüngeren Brüder waren auf einer Kadettenanstalt erzogen worden, um Offizier zu werden. Meine Großmutter hatte bestimmt damit Recht, daß ein Leben bei zwei alten Damen für einen Jungen auf die Dauer nicht guttun würde, sondern seine Erziehung eine männliche Hand erforderte. So lag es nahe, nach meinem Eintritt ins Gymnasium ein Gesuch um meine Aufnahme in einer Kadettenanstalt einzureichen.
Inzwischen war aber der Krieg ausgebrochen, und so wurde sie ablehnend be schieden, da es mittlerweile viele Söhne gefallener Offiziere gab, die den Vortritt erhielten. Nachdem den beiden alten Damen zuhause das Treppensteigen immer beschwerlich geworden war, Wurde von neuem umgezogen – zum letztenmal - und in eine ebenerdige Wohnung.
Sie lag diesmal mitten in der Stadt und zwar im "Alten Eichel'schen Schloß". Die von Eichlels waren von Alters her so etwas wie die ungekrönten Könige der Stadt. Zu meiner Zeit bewohnten sie schon seit langem ein stattliches neues Schloß inmitten eines großen Parkes auf einer Anhöhe über Eisenach.
In dem "Alten", in einen Teil von dessen Erdgeschoß wir zogen, lebte ein ältliches Fräulein von Eichel zusammen mit einer Gesellschafterin und dem guten alten "Stein", ihr treuer Diener und zugleich Kutscher. Das Gebäude grenzte unmittelbar an den "Jakobsplan", einem großen viereckigen mit Bäumen umstanden Platz mit einem Denkmal in der Mitte von Irgendwem, vermutlich von einem mehr oder weniger berühmten "Jakob". Man betrat das Schloß durch eine im allgemeinen verschlossene Torfahrt mit einer Extratür für den Fußgänger, von der innen einige Stufen nach rechts unmittelbar in den Salon meiner Großmutter führten.
Gegenüber ging es zum "alten Stein", Diener und Herrschaftskutscher, der das gnädige Fräulein schon als kleines Mädchen betreut hatte. Nach hinten schloß sich eine sehr hübsche Parkanlage mit alten Bäumen und Rasenflächen an, rechts war sie durch ein Stück alter Stadtmauer begrenzt mit einem Wachtturm, durch dessen Pforte man in einen Gemüsegarten gelangte. Im allgemeinen hatten wir keinen utritt zu dem Park, aber nachmittags zwischen 2 und 4 (der "Siesta" der Besitzerin) durften wir uns darin ergehen, gerade für meine Großmutter von nicht geringem Wert.
Das gnädige Fräulein war ein etwas tyrannisches Persönchen, so bestimmte der Mietvertrag ausdrücklich, daß den Mietern das Klavierspielen nicht gestattet sei, aber es wurde nie vergessen, Bescheid zu sagen, wenn die Dame ausgefahren war, was ziemlich oft geschah. Während des Hochsommers hielt sie sich wochenlang in irgendeinem italienischen Badeort auf, und wir hatten freie Bahn.
Theatherloge Eisenach
Mir war die alte Dame freundlich zugetan. Es verstand sich von selbst, daß ich ihr sofort bei Beginn meiner Ferien meine Aufwartung machte; dann mußte ich ihr genau von mir, meinem Studium usw. berichten. Ebenso gab es einen Abschiedsbesuch am Ferienende.
Es ist hinreichend bekannt, das Fürstenhäuser früher die Förderer von Kultur und Kunst waren. Gerade in den kleineren galt das für das "Theater" (man denke nur an die berühmten Meininger). Auch Eisenach hatte ein sehr stattliches Theatergebäude, sehr gute Kräfte, von denen viele von dort aus ihren Weg gemacht haben. Die Eichels hatten dort eine eigene Loge; von der aber das alte Fräulein selten Gebrauch machte. Daher gab sie mir in der Wintersaison öfter ihre Karte.
Mit dieser Annehmlichkeit war einmal für mich auch etwas Unerfreuliches verbunden. Ich hatte mich sehr fein gemacht mit Lackhalbschuhen. Es war Frost, meine Füße auch zunächst noch kühl, sodaß ich leicht in die engen Schuhe schlüpfen konnte. Im Theater aber erwärmten sie sich schnell und fingen an, erheblich zu schmerzen, bis ich es nicht mehr aushielt und sie - allein in der Loge - einfach auszog: keiner kann sich vorstellen, welche Qualen und Ängste ich auszustehen hatte, bis sie endlich wieder an meinen Füßen waren!
Schon zu Luther's Zeiten gab es in Eisenach ein Waisenhaus für Knaben, das von mildtätigen Bürgern unterhalten wurde; zu diesen Gönnern hatten auch von je her die Eichels gehört. Das Waisenhaus unterhielt einen sehr guten Knabenchor, die "Kurrende". In der guten Jahreszeit pflegte dieser als Dank am Sonntag in der Frühe vor den Fenstern der Wohltäter zu singen, also auch vor dem alten Schloß. Es gehört zu meinen schönsten Erinnerungen, wenn ich von dem lieblichen Gesang vor den Fenstern geweckt wurde. Damit aber wieder nach Naumburg zurück. Dazu wird es nötig sein, ein ganzes Stück zurückzublenden - bis zum Kriegsausbruch 1914.
Die meisten werden sich noch gut an 1939 und die Sondermeldungen mit großen Siegen erinnern und die Fanfaren im Rundfunk. Den gab es 1914 ja noch nicht.
Etwa nur gut 100 m von uns hatte die Parallelstraße zu der unseren eine einspringende Ecke, so daß ein kleiner dreieckiger Platz entstanden war; dort befand sich die Geschäftsstelle unserer Eisenacher Tageszeitung. Auf der Wand hing ein großer Schaukasten - und dort wurden jedesmal frisch gedruckte "Extrablätter" mit den Siegesnachrichten angeheftet. Man mußte also selber hinrennen und tat das auch mehrmals am Tage. Aus den herbeigeeilten begeisterten Leuten formierte sich öfter ein Zug und bewegte sich, patriotische Lieder singend, zum Marktplatz; dort hielt jemand eine flammende Rede - mit einem "Hurra" auf seine Majestät ging man zufrieden wieder heim.
Für Eisenach begann der Krieg mit einer irren "Spionenangst", obwohl es in ihr nur eine ganz kleine Garnison, keinerlei militärisch wichtige Anlagen oder Industrie gab. Natürlich würden es "Russen" sein, die mit dem Auto kamen, und so wurde die westliche und östliche Ausfallstraße Tag und Nacht mit Polizeiposten besetzt; sie erhielten, weiß der Kuckuck wozu, jeden Morgen eine neue "Parole". Die war natürlich streng geheim, so daß sie niemend anders hätte kennen können und die Posten kannten sie sowieso. Es waren gerade große Ferien, und so wurden ältere Schüler, die ein Fahrrad besaßen, ausersehen die "Parole" zu überbringen. Dazu erhielt man bei der Polizei eine sehr dekorative weiße Armbinde mit einem amtlichen Stempel und eine Umhängetasche für den Umschlag mit der "Parole" - wir kamen uns äußerst wichtig vor. Einige unschuldige und nichtsahnende Autofahrer, die Eisenach ansteuerten, wurden sofort verhaftet und hochnotpeinlich befragt - und mußten jedesmal wieder entlassen werden: es war unter ihnen ums Platzen kein rus-sischer "Agent" gewesen! Schließlich verlor man die Lust an der Sache, wir Jungens mußten wieder zur Schule, und sie schlief ein.
Lebensmittelkarten wurden eingeführt, die Versorgung wurde immer knapper (längst waren die Brötchenbeutel morgens an der Wohnungstür sang und klanglos verschwunden und nur noch die Erinnerung an sie geblieben, als ein Symbol für tiefsten Frieden). Der Krieg dauerte immer länger, die Kosten stiegen gewaltig; Kriegsanleihen wurden eine nach der anderen aufgelegt, aber die schlechten Nachrichten von den Fronten und die immer magerere Verpflegung ließen die anfängliche Begeisterung und Opferwilligkeit dahinschmelzen, schließlich probierte man es "kein-klein" mit der Aufstellung riesiger Holztafeln auf dem Marktplatz, mit einem "Eisernen Kreuz" oder einem "Hindenburg", den man "nageln" sollte. Dazu konnte man, je nachdem für 1 Mark oder 50/10 Pfennige einen "goldenen, silbernen (d .h. entsprechend bronzierten) oder schwarzen Nagel mit quadratischem Kopf erwerben und selber einschlagen - auch ich in bescheidenem Umfang versteht sich. Aber auch dieses schlief ein.
In den Osterferien (1917) war ich wieder mit meinen Pfadfindern unterwegs; diesmal war eine Ruine der Burg "Brandenfels" das Ziel. Sie lag auf einem flachen Bergvorsprung mit Blick über das schöne "Werra"-Tal. Ein Gebäudeteil war so instandgesetzt worden, daß er Platz für eine Küche mit einem großen verrußten Herd, einem Eß- und einem Schlafraum bot.
Wir hatten abends ein loderndes Feuer entzündet, aber dann bis auf die Glut niederbrennen lassen. Darum legten wir uns im Kreis auf unsere Decken und sangen mit Blick auf das malerische Tal zur Laute.
5.N A U-M-B U R G (Kadettenanstalt)
Ich war zur Aufnahmeprüfung beordert worden und fuhr in Begleitung meiner Groß-Tante hin. Ich hatte ein überdurchschnittliches Zeugnis vorzuweisen und bestand die Prüfung leicht. Aber für künftige Offiziere seiner Majestät reichte das allein nicht aus. Es muß mir doch wohl noch zuviel vom Großmuttersöhnchen angehaftet haben und der allgemeine körperliche Zustand spielte eine Rolle: ich wurde eine Klasse zurückversetzt. Es zeigte sich einmal wieder, daß solche Klassenwiederholungen gerade in der Reifezeit sich günstig auswirken - von Stund an war ich im Unterricht konkurrenzlos der Beste.
Um einer gewissen Reihenfolge willen beginne ich mit einer kurzen Schilderung der Örtlichkeiten und der näheren Umgebung, die ja für mich mehr als 5 Jahre eine Heimat bilden würde.
In ein Hochplateau mit ausgedehnten Wäldern, meist Buchen und Eichen, hatte die "Saale" (und auch die "Unstrut" von Norden her) im Lauf der Zeit ein breites Tal geschnitten, das sie von West nach Ost durchfloß, ehe sie am Ende in die Elbe mündete.
Nach Süden zu erstreckten sich zunächst etwas flachere Hänge, im Anschluß an die Stadt mit weiten Kirschhainen bedeckt, mit denen ein altes Lied zutun hat: "Die Hussiten zogen vor Naumburg ... und der Lehrer in der Schul' auf die Kinderlein verfuhl ... dem Prokopen tat es scheinen, Kirschen schenkte er den Kleinen ..." - und so wurde die Stadt von der üblichen Plünderung verschont. Seitdem und gewiß auch heute noch wird jeden Sommer ein großes "Kirschfest" gefeiert!
Die Anstalt lag am Westausgang der Stadt direkt an der Landstraße über Bad-Kösen, Apolda, Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach quer durch ganz Thüringen.
Gleich am Anfang gab es eine felsige Steinwand, die senkrecht zur Saale abstürzte. Nördlich des Flusses waren die Hänge bedeutend-flacher und trugen ausgedehnte Weinberge und diese wieder einen guten Tropfen, von dem es hieß, er sei recht trinkbar (ich allerdings habe damals noch nichts davon zu kosten bekommen). Naumburg, ein wenig höher am Hang gelegen, ist eine historische Stadt. Viele werden den berühmten Dom, halb gotisch, halb romanisch, mit seinen 4 Türmen kennen, der sich auf einem Plateau mit weitem Blick über das Tal erhebt, ebenso die "Stifterfiguren“, aber wohl nicht so sehr die Kapitelle der Säulen im Innern, die aus filigranartigem Blätterwerk bestanden, jedes vom anderen verschieden. Diese feine Arbeit wurde dadurch ermöglicht, daß nicht sehr weit weg sog. "Speckstein" gefunden worden war, im Urzustand so weich, daß man ihn mit dem Messer schneiden konnte und erst im Freien seine große Härte bekam.
Die Innenstadt hatte enge Straßen und Gassen mit niedrigen Häuserreihen und einen viereckigen, leicht ansteigenden Marktplatz von 4-stöckigen Wohnhäusern umstanden und hohen Spitzdächern und der Sonderheit, daß sie mit bis zu 3 Reihen Dachgauben mit Fenstern versehen waren. Auch das Rathaus war ein historischer Bau, an Einzelheiten erinnere ich mich aber nicht mehr, sondern nur daran, daß links daneben das "Café Herfurth" stand, für uns stets kuchenhungrigen Kadetten ein beliebtes Ziel. Am oberen Ende hinter einer Häuserreihe erhob sich der gedrungene Hallenbau der „Wenzelkirche" mit einem hohen spitzen Turm, von Bauten so dicht umdrängt wie eine Glucke von Ihren Küchlein.
Um einen größeren Teil der Innenstadt herum war hinter einem Graben noch ein Stück der alten Stadtmauer mit einigen Toren erhalten geblieben - bei Spaziergängern beliebt.
Von dem im Norden etwas abgesetzten Bahnhof führte eine elektrische Straßenbahn in beiden Richtungen um die Innenstadt. In den Außenbezirken standen Einfamilienhäuser und Villen in hübschen Gärten: Naumburg war Pensionärstadt wie z.B. auch Eisenach). Sie war ein Einzugsgebiet für das weite Umland mit stark besuchten Märkten - das konnte man sogar "riechen": denn der ganze Ort war an einem solchen Tag mit dem „Duft" vorzüglicher Thüringer Wurst und F1eischstücken angefUllt , die die Fleischer in den Toreinfahrten ihrer Geschäfte auf dem Rost brieten. Damit will ich nun zu unserer Anstalt Ubergehen. Der preußische “Kadettenkorps" hatte 6 „Vorkorps" (Karlsruhe, Plön, Köslin, Naumburg, Bensberg und Potzdam mit den Klassen Sexta bis Obertertia (Naumburg auch Untersekundas) und die "Hauptkadettenanstalt“ in Berlin-Großlichterfelde bis Oberprima und Abitur. Als "Fähnrich" kam man zu einem Truppenteil und wurde bald Leutnant.
(Übrigens hatte auch das Königreich Sachsen eine Kadettenanstalt in Dresden. In ihrem Festsaal soll auf einer Ehrentafel auch unser Name verzeichnet sein:
Unter August dem Starken soll ein Vorfahre verdienter Minister gewesen sein. Er war unverheiratet und kinderlos, und mit ihm ist dieser Zweig ausgestorben. A1s ich zum Studium nach Dresden kam, existierte die dortige Anstalt längst nicht mehr; auch war ich damals an Familienforschung noch nicht interessiert).Unsere Anstalt beherbergte 2 Kompanien (ich gehörte zur I.) mit je rd. 100 Kadetten mit einem älteren verdienten Oberst als Kommandeur und je einem Hauptmann/Major als Kompaniechef und Leutnanten/Oberleutnanten als "Erzieher". Die Kompanie war in 5 Abteilungen mit 10 "Stuben" aufgeteilt, immer zwischen zwei Stuben befand sich die Wohnung des Erziehers, bestehend aus einem winzigen Vorraum am Eingang vom Flur und einem spartanisch einfach eingerichteten Schlaf- und Wohnraum. Von diesem führte eine Tür direkt in die eine Stube und durch den kleinen Flur eine weitere zur anderen.
Die Stuben enthielten Tische mit Schubladen für je 2 Kadetten, Holzstühle mit durchlochten Sitzen (wegen der "Ventilation") und eine entsprechende Anzahl von einfachen oder doppelten "Spinden“, Holzschränke zur Aufbewahrung der täglichen Kleidung, der Wäsche und des Schuhwerkes, der Schulbücher und Sonstigem. Erwärmt wurde der Raum zentral mit Heißluft aus einem Labyrinth von unten her, d.h. über Austrittsöffnungen über dem Fußboden mit Gittern abgedeckt. Beleuchtung erfolgte überall durch Gaslampen.
Das oberste Fach der Spinde war eines jeden persönliches Heiligtum, liebevoll geschmückt, ganz mit rotem Tuch ausgeschlagen enthielt es vor allem Bilder der Familie und von Zuhause, Achselstücke von Vätern und anderen Anverwandten, die fast alle selber Offiziere waren oder gewesen waren und allerlei Krimskrams, der z. T. die Bezeichnung "Nippes" rechtfertigte. Das Fach war für jedermann ab solut "tabu" - mit einer einzigen Ausnahme.
Da wir es ja in der Anstalt garnicht brauchten, war der Besitz von Geld im allgemeinen nicht gestattet, „Rauchen“ war streng verboten und daher auch Tabak und Streichhölzer. Ein Gegenstand aber war bei uns äußerst begehrt: der „Allgemeine", ein Generalschlüssel für sämtliche Schlösser im Haus - und auch für die Pforten zur Stadt. Da müssen sich eines Abends welche hinaus-geschlichen haben und sind beobachtet worden; das wurde der Anstalt gemeldet. Es wurde die gefürchtete "Spindrevision" angesetzt: Heraustreten in den Flur, jede Abteilung vor den Stuben, diese wurden abgeschlossen und für jeden einzelnen unter Aufsicht des Erziehers und des Kompaniechefs "gefilzt". Der Spind wurde auf den Kopf gestellt und auch das Nippesfach nicht verschont. Das für die vorgesetzten blamable Ergebnis war: es wurde nicht ein einziger "Allgemeiner" gefunden! Aber selbstverständlich gab es welche, und es wurde härteste Bestrafung angedroht (bis zur Verweisung von der Anstalt), wenn sie nicht unverzüglich ausgeliefert würden. Da hatte unser Kompanieführer eine gute Idee: die Schlüssel sollten in seiner Abwesenheit unbeobachtet auf seinen Spind gelegt werden, und damit sollte die Angelegenheit erledigt sein - es fanden sich f ü n f "Allgemeine" zusammen (man kann wetten, daß es trotzdem nicht sämtliche gewesen sind.)
Zu den uniformtragenden Vorgesetzten gehörte weiter ein Stabsarzt für unser leibliches Wohl, zugleich Leiter unseres Lazarettes und der evangelische Geistliche, ein Militärpfarrer. Er war ein Feuergeist, verstand es prächtig uns junges Volk zu nehmen und war deshalb beliebt und hochgeachtet (dem tat es der unter Kadetten übliche Spitzname für ihn "SAK" = SUndenabwehrkanone“). Ihm zur Seite stand ein in schwarzes Zivil gekleideter und schon von daher wenig geschätzter"Predigtamtskandidat", unter uns "Himmelsfähnrich" genannt. Zu seinem farblosen und ganz unmilitärischen Wesen kamen einige Marotten und der - vergebliche - Versuch, uns zu imponieren. Sein Steckenpferd war das Hebräische und er ließ keine Gelegenheit aus, beim Vorlesen von Bibeltexten Zizate aus dieser für uns völlig unverständlichen und sehr sonderbar klingenden Sprache einzuflechten. An folgendes erinnere ich mich dem Klang nach noch ganz schwach: " ... scho aria schuh - chaets, beat ... " oder so ähnlich, das bestenfalls Gelächter auslöste, was ihn natürlich sehr verdroß. Mit unserem Pfarrer war ich sogar um zwei Ecken verwandt: seine Gattin war die Schwester der zweiten Frau meines Onkels Wilhelm von Zoepffel, den ich schon einmal erwähnt habe. Dies brachte mir Einladungen zu Kaffee und Kuchen ein - und wer weiß, was das für einen Kadetten bedeutet, versteht meine Sympathie für unseren Geistlichen auch in dieser Beziehung.
Eines preußischen Soldaten größter Stolz ist, den Rock seines Königs zu tragen; das galt ebenso trotz unserer Jugend für unsereinen, und deshalb geht es nicht ohne eine genaue Beschreibung unserer Uniform ab.
Das Hauptstück unser Waffenrock, bestand aus mittelblauem festem Wollstoff mit rotem Stehkragen und goldfarbenen Gardelitzen darauf, sowie roten Ärmelstulpen je mit zwei blanken Knöpfen, Achselklappen aus Stoff am Kragen angeknöpft und einer Reihe stets blitzblank zu haltender Messingknöpfe. Hierzu hatte man eine (Knopfgabel, zusammenklappbar und am Rande so gewellt, daß man die Knöpfe einquetschen konnte und der Stoff darunter vor dem scharfen Reinigungsmittel geschützt war. Es war nunmehr fast über ein Jahrhundert das gute alte "Sidol".
Bei jedem Heraustreten der Kompanie und Antreten der Kompanie fand eine strenge Kontrolle auf Sitz und Sauberkeit statt, besonders wichtig dabei war, daß die Knöpfe fest saßen. Geprüft wurde das mit einer ziemlich brutalen Methode: man umfaßte den Knopf mit zwei Fingern, drehte ihn ein paarmal und riß dann kräftig daran. Inzwischen gab es als Garn nur einen besseren Bindfaden, der eigentlich bei jeder Prüfung riß. Das gefiel uns natürlich ganz und garnicht, und so kam einer auf die geniale Idee reißfesten Blumendraht zu verwenden: der hielt zwar, aber nun wurden ganze Stoffetzen herausgerissen. Wütend nicht zu Unrecht rannte unser Kammer-Feldwebel zum Chef und beklagte sich bitter, und der Unfug wurde sogleich abgestellt. Doch erst einmal weiter mit der Bekleidung.
Wir trugen eine feste schwarze Stoffhose mit einer ganz schmalen Biese an den Außenseiten - hier gab es kein Knopfproblem, denn man durfte Patentknöpfe verwenden, die in den Stoff sicher eingeschlagen wurden. Hinzuzufügen ist noch, daß unter dem Kragen eine schwarze Halsbinde getragen wurde. Die Fußbekleidung bestand anfangs noch aus dem bekannten "Knobelbecher", einem halbhohen Lederstiefel wie auch überall bei der Truppe. Der zunehmende Ledermangel brachte es mit sich, daß man auf lederne und endlich auf kunstlederne Schnürstiefel überging, zuletzt mit Holzsohlen. Hier bildeten nun die Schnürsenkel ein Problem, denn auch bei ihnen gab es nur noch solche aus papierähnlichem Material. Das riß nicht nur an sich leichter, sondern war gegen Feuchtigkeit und Nässe hochempfindlich und bereitete dauernd Ärger.
Unsere Ausstattung wurde vervollständigt mit der Dienstmütze, blau mit rotem Rand und festem schwarzen Schirm und zwei Kokarden übereinander: eine schwarzweiß-rote und eine schwarz-weiße preußische, schließlich einem langen mittelgrauen Militärmantel. Außerhalb des Dienstes hatten wir eine einfache schlichte dunkelblaue Jacke (eine ''Litewka), und drinnen lederne Hausschuhe.
Für die '.'Verpflegung" in der Anstalt war ein "Ökonom" verantwortlich, von uns aus unerfindlichen Gründen der "Knux" genannt, zugleich Herrscher über eine Schar von Küchenmädchen "Kallen" geheißen. Es war ein untersetzter kahlköpfiger, leicht cholerischer und brummiger Mann mit listigen Schweisäugelchen. Aber gleich jetzt soll und muß ihm bescheinigt werden, daß er sich die allergrößte Mühe gegeben hat, uns ein einigermaßen wohlschmeckendes und nahrhaftes essen zu bieten!!
Alles Nötige erhielten wir aus einem großen entfernten Militärdepot. Es war bestimmt so, daß zunehmender Mangel an geeignetem Personal dazu beitrug, daß bei der Lagerung und Verteilung nicht genügend sachkundig und sorgfältig vorgegangen worden ist und so manches zu uns gekommen ist, das nicht mehr einwandfrei und fUr die Ernährung geeignet war. Zum Beispiel schwammen in den Nudeln Fetzen des Einpackpapiers, aber noch schlimmer eine große Zahl von Maden (unser wortloser Protest dagegen bestand darin, daß wir sie im Wettbewerb auf dem Tellerrand fein säuberlich aufreihten). Kartoffeln waren zuweilen so angefroren, daß man sie von der Schale nicht mehr unterscheiden konnte und man diese kurzerhand mitessen mußte.
Ein besonderes Kapitel waren die Frühstücksbrote in der großen Pause. Im Anfang waren sie mit ganz schmackhafter "99-Frucht"-Marmelade bestrichen. An deren Stelle trat eine graugelbe Schmiere, die aussah und schmeckte, als sei sie Straßenstaub mit Wasser vermischt. Hinzu kam, daß die Stullen schon einige Zeit vor der Pause auf Servierbrettern in den Nischen der Flurfenster ausgelegt wurden, alles war bereits völlig eingetrocknet und rissig - kein appetitanregender Anblick, aber Hunger treibt's rein! Schließlich ging es mit Brot ganz zu Ende: es gab für jeden bloß noch eine rohe Scheibe Kohlrübe. Der Geschmack war uns nicht einmal fremd, brachten wir uns während der Ernte der Feldfrüchte vom Spaziergang solch eine Rübe mit, schnitten sie zu Hause in Scheiben und schmorten sie über dem Gasglühlicht im eigenen Saft.
Eine große Hilfe waren die zahlreichen "Freßpakete" von Zuhause: viele Eltern und Verwandte lebten auf dem lande und waren Gutsbesitzer und litten keinen Mangel. Aber nicht nur deren Sprößlinge hatten etwas davon, sondern wegen der "Kameradschaft", die bei uns ganz groß geschrieben wurde, erhiehlten alle ihren Anteil.
Nach dem Mittagessen wurden auf den Stuben 2 1/2 "Arbeitsstunden" abgehalten unter der Aufsicht des Erziehers bei geöffneten Türen zu ihm. Es bestand striktes Redeverbot. War man mit den Schularbeiten vorzeitig fertig, so konnte man sich die Erlaubnis holen, sich "still zu beschäftigen" - mit Lesen oder Briefeschreiben.
Zweitens gab es eine "Früharbeitsstunde", 30 Minuten lang nach dem Frühstück vor dem Unterrichtsbeginn - eine vorzügliche Einrichtung: es durften keine schriftlichen Arbeiten mehr gemacht werden, sondern das Pensum nur noch übergelesen. Frisch ausgeschlafen prägte sich alles schneller und tiefer ein.
Benotungssystem 1 bis 9
Die Unterrichtsleitung lag in den Händen eines zivilen Oberstudiendirektors, Mathematiker von Fach. Besondere Hochachtung genoß er bei uns, weil es hieß, er sei der Sohn eines armen Schäfers aus der Lüneburger Heide und habe sich ganzallein. Die Unterrichtsleitung lag in den Händen eines zivilen Oberstudiendirektors, Mathematiker von Fach. Besondere Hochachtung genoß er bei uns, weil es hieß, er sei der Sohn eines armen Schäfers aus der Lüneburger Heide und habe sich ganz allein so hoch gearbeitet. Dazu kam noch eine wirkliche "Mär": sonntags morgens liege er noch im Bett und rechne auswendig mit 7-stelligen Logarithmen, ein blühender Unsinn, aber für uns Grund zur Bewunderung.
Weil zugleich schulisch und militärisch sei eines anderen Mathematiklehrers gedacht mit dem äußerst seltenen Rang eines "Feldwebelleutnants", die höchste Stufe im Unteroffizierskorps, aber eben doch noch kein ganz richtiger Offizier. Andererseits trug er Offiziersachselstücke und einen Degen. Er war stark auf seine Würde bedacht, streng und bärbeißig - was man einen scharfen Hund nennt -, aber ich hatte darunter nicht zu leiden, sondern war bei ihm gut angeschrieben.
Zur Erläuterung muß ich etwas auf unser "Benotungssystem" kommen das sich von dem Üblichen stark unterschied. Statt 5 gab es "9" Noten, indem die Zwischenwerte auch in ganzen Zahlen ausgedrückt wurden - und in umgekehrter Reihenfolge: die "1" war also die schlechteste. Dabei ging man mit den guten geizig um. Eine völlig fehlerfreie Arbeit bekam erst einmal nur eine "7". Erst die dritte "7" - in ununterbrochener Reihenfolge - wurde zur "8" erhöht, ebenso die dritte 8 zur "9"! Ich seltener Vogel habe es vielleicht als Einziger in der Anstalt in Mathematik erreicht!
Besonders gespannt sah man den "Versetzungskonferenzen" entgegen, hing doch davon ab, ob man zugleich nach Lichterfelde versetzt wurde oder die Klasse weiterin Naumburg wiederholen mußte.
Nun hatte die Anstalt ja eine Heißluftbeheizung im Keller mit einem Labyrinth Zuführungskanälen zu den einzelnen Räumen und so weit, daß ein Schüler hin-durchkriechen konnte. Das war allgemein bekannt und hätte sich leicht veränder lassen - aus unverständlichen Gründen war es verabsäumt worden.
Während der Konferenz, an der auch die Erzieher teilnahmen, hatten wir nur untereigener Aufsicht auf unseren Stuben zu bleiben. Damit erhielten wir Gelegenheit, einen von uns als "Spion" in Richtung auf das Lehrerzimmer in Marsch zu setzen und zu lauschen, erwischt ist niemals einer. Als unser Kompaniechef einmal nicht hatte teilnehmen können, hatte er den Humor, sich gleich bei uns nach den Ergebnissen zu erkundigen ("ihr Brüder wißt ja am genauesten Bescheid")!
Nach der Arbeitsstunde war entweder Freizeit draußen oder drinnen "Beschäftigungsstunde" Mit Lesen, Spielen, Basteln oder dem Besuch bei einem Freund in anderen Abteilungen. Auch in diesen Fällen mußte man sich bei jedem Verlassen der eigenen Abteilung beim "Offizier vom Dienst" ab- und wieder zurückmelden. Gegen 9 Uhr abends wurde auf den unteren Korridor herausgetreten und in den Schlafsaal abmarschiert.
Unsere "Kompaniespaziergänge" (nach Westen zu) gehörten nicht zur militäri-schen Ausbildung, sondern dienten dem Aufenthalt und der Bewegung in frischer Luft. Es wurde zwar in geschlossener Formation, die Jüngsten voran im Gleich-schritt losmarschiert, mit flottem Gesang ("... zwei, drei, vier! ein Soldatenlied, recht zackig und laut - und daher nicht unbedingt schön), aber sobald wir die öffentliche Straße verließen, wurde "weggetreten" und man wanderte mit Freunden gemütlich weiter und unterhielt sich über Gott und die Welt. Dabei gab es zwei Hauptthemen: das "Zuhause" und das E s s e n, schon fast ein richtiges "Trauma". Wir hatten uns dabei etwas ganz Besonderes ausgedacht:
Eine Art von Schreibmaschine, vorn mit einer Tastatur; mittels der man irgend ein leckeres Gericht oder Ähnliches eintippte und aus der Rückseite aus einem dunklen Kasten fix und fertig herausnehmen konnte - ein Hauptthema der in diesen Mangelzeiten stets hungrigen Kadetten.
Die eigentliche "militärische" Ausbildung bestand im wesentlichen aus "Exerzieren in größeren und kleineren Trupps, aber auch für die ganze Kompanie mit exakten Schwenkungen, Kehrtwendungen im Gleichschritt und nach Kommando. Bei den Älteren kam noch der berühmte preußische "Parademarsch" hinzu. Zwar kennen auch andere Nationen so etwas, aber bei den Engländern kam es uns mehr als Gezappel vor; die Beine wurden wohl auch hochgeworfen, aber der Schwung wurde nicht ausgenutzt und der Körper fiel beim Aufsetzen des Beines wieder etwas zurück. Bei uns wurde der Körper zugleich durch den Armschwung nach vorn gerissen: es entstand ein raumgreifendes organisches "Schreiten" von fast tänzerischrer Schönheit - meine ich wenigstens.
Es wurden "Felddienstübungen" abgehalten, bei denen das Zurechtfinden im Gelände auf der Karte geübt wurde unter Verwendung der beim Militär üblichen "Meßtischblätter 1 : 10 000", die kleinste Einzelheiten zeigten, wie den bei Soldaten wohlbekannten "Kugelbaum" im Planquadrat X als Orientierungs- und Zielpunkt. Wir mußten auch selbst "Croquis", Geländezkizzen anfertigen und führten dazu an einem Schulterriemen durchsichtige Zellophantaschen mit entsprechendem Zeichenpapier, Bleistiften, Radiergummi, Lineal, Zeichendreieck und einem Marschkompaß mit uns.
Dazu rechnete auch der Unterricht in "Rundschrift", eine militärische Einheitsschrift für alle Beschriftungen z.B. Zeichnungen, Buch- und Heftumschläge usw. In besondere Halter mit abgeschrägten Kanten wegen des richttigen Sitzes wurden spezielle Stahlfedern in verschiedenen Breiten eingesteckt; für Zierschriften gab es auch Doppelfedern gleich- oder verschieden breit. Wir bekamen große Schreibhefte mit entsprechender Linierung, in denen Musterbuchstaben und -wörter sorgfältig zur Übung nachgeschrieben werden mußten. Das lag mir sehr, brachte mir auch sehr gute Noten ein, aber auch einen gewissen Nachteil. Für jede Woche mußte von dem jeweiligen "U.v.D." (Unteroffizier vom Dienst) eine große Kompanietafel mit dem Dienstplan versehen werden. So große Federn gab es nun nicht und man mußte sich aus weichem Holz einen Spachtel schnitzen und für die Beschriftung aus Gips und Wasser einen nicht zu dicken und nicht zu dünnen Brei anrühren. Da man meinte, ich könnte das von allen am besten, blieb ich dabei auf lange Zeit hängen.
Das Gelände der Anstalt grenzte unmittelbar an die Chaussee nach Westen und erstreckte sich zunächst eben, dann leicht zu einer Anhöhe ansteigend. Es war auf allen Seiten mit einer etwa 1 m hohen Mauer, ebenfalls aus rotem Klinker mit einem hohen Gitter eingefriedet, dessen Eisenstäbe oben in Speerspitzen ausliefen.
Haupteingang und Einfahrt von der Straße lagen mit dem Pförtnerhaus gleich vorn links; weiter hinten befanden sich noch weitere stets verschlossene Tore für Fußgänger. Auf dem ausgedehnten Vorgelände vor dem Hauptbau war Rasen mit einigen Büschen und Blumenbeeten angelegt worden.
In einigem Abstand barg ein alleinstehender Bau im Hochparterre die Dienssträume des "Rendanten" und im Obergeschoß die Wohnung des Kommandeurs und seiner Familie. Etwa auf gleicher Höhe ganz rechts stand ein "Offizierskasino".
Das Hauptgebäude, ebenso wie alle preußischen Zweckbauten aus rotem Klinker auf hellem Steinsockel zeigte im Grundriß deutlich die Form eines "Adlers" mit leicht ausgebreiteten Schwingen.
Den "Rumpf" bildete der nach vorn und hinten herausragende insgesamt etwas höhere Mittelbau, vorn eine große Eingangshalle, das "Vestibül", indem man über einige durchlaufende Stufen das Hochparterre erreichte. Von dem Vorplatz aus gelangte man in den für beide Kompanien gemeinsamen Speisesaal. Darin standen die 10 Tischreihen, je zwei hintereinander mit Sitzbänken und an den Stirnseiten für die Abteilungs- und Stubenältesten, in der Mitte der Längswand die Essenausgabe, die aus der Küche mit Aufzügen beschickt wurde. Im Obergeschoß lag nach vorneein großer Zeichensaal mit einem Abstellraum für Utensilien für den Unterricht wie alle möglichen Modelle und Landkarten. Nach der anderen Seite führte eine breite Treppe zu der Turnhalle mit der gleichen Grundfläche wie der Speisesaal hinauf. Er war reichlich bestückt mit Geräten wie Reck, Barren, Ringen, Leitern, Pferden und Böcken, Kästen und ledernen gepolsterten Sprungmatten. Ein Gemach neben der Treppe darf nicht unerwähnt gelassen werden, das Lehrerzimmer, wie in den meisten Schulen "Pauker-Stall" genannt! über dem Zeichensaal befand sich die "Kapelle", eigentlich schon eine richtige Kirche ganz in einem warmen Ton getäfelt. Die Sitzbänke leicht treppenförmig ansteigend aufgestellt. In die linke Seitenwand eingebaut war eine Orgel, in die rechte die Sakristei. Den Altarraum schlossen raumhohe schmucklose Fenster ab.
Vom Mittelbau zweigten alle anderen Räume und Gebäudeflügel symmetrisch ab, so daß es genügt nur "unsere" Seite zu beschreiben. An einem langen Flur, der auf beiden Enden in voller Breite mit Pendeltüren abgeschlossen war, lagen im Parterre zunächst ein "Revierzimmer" für ambulante Behandlung durch den Anstaltsarzt, in der Ecke zum nächsten Flügel das Dienstzimmer des Kompaniechefs. An dieser Stelle war auch das Haupttreppenhaus mit Zugang vom Hof ("Appellplatz") her; in dem rechtwinklig anschließenden Flur (auch wieder mit Pendeltüren) lagen die Stuben 7 bis 10 der Abteilungen 4 und 5. Der Flur endete wieder in einem Treppenhaus mit Ausgang nach Außen, dann folgte ein weiterer etwas schräg angesetzter Flügel mit Dienstwohnungen.
Im Obergeschoß lagen noch einige weitere Klassenräume, dann die Abteilung 3 mit den Stuben 5 und 6, einem "Arrestlokal" über dem Chefzimmer und um die Ecke die Abteilungen 1 und 2 mit den Stuben 1 bis 4.
Im 2. Obergeschoß befanden sich die "Kammer", über die noch einiges zu sagen sein wird, Wasch- und Duschräume und dann über einen ganzen Flügel der Kompanieschlafsaal mit Reihen von Feldbetten, in denen es sich aber sehr gut schlafen ließ, neben jedem ein Schemel für die Kleiderablage (und darunter eine "vase de nuit" mit einem Holzdeckel, deren Benutzung aber streng verpönt war. Die Jüngsten unter uns waren ja fast noch Kinder, und es wurde nicht als ehrenrüchig angesehen, wenn sich unter ihnen zuweilen ein Bettnässer befand. Die wurden aber von einem Nachtwächter geweckt, der zweimal zur Kontrolle durch den Schlafsaal ging). Der "Offizier vom Dienst" hatte mittendrin eine Holzkabine. Morgens wurde mit einem schrillen Klingelzeichen – geweckt; dann begann ein Wettlauf zum Waschraum, da jeder als erster hinunter in seine Stube zu gelangen trachtete.
Gerade hatte ich "Arrestlokal" geschrieben - und mit dem habe ich , oh Schande, selbst einmal Bekanntschaft gemacht. In Geschichte und Erdkunde hatten wir einen Studienrat mit einem dünnen Mittelscheitel, einem Lippenbärtchen und studentischen Schmissen auf der Wange, an den Handgelenken lose weiße Manschetten und einen mindestens 10 cm hohen Stehkragen und schließlich einen Zwicker mit Goldrand und Seidenschnur - entsprechend streng und unnahbar gab er sich.
Aber man muß es ihm lassen: sein Unterricht war hervorragend: er entwickelte eine ganz eigene Art mit "Querschnitten". Er wählte irgend eine Jahreszahl und entfaltete von ihr aus nach rückwärts und in die Breite über den engeren Bereich hinaus die Bedeutung der Ereignisse. Nachdem das letzte Pensum nur kurz abgefragt worden war, hielt er eine geschlossene akademische "Vorlesung". Da es so in keinem Lehrbuch stand, durften und sollten wir mitschreiben.
Wir hatten bei ihm gleich am Montag früh die erste Stunde, als ich zu meinem Erschrecken feststellte, daß ich französische Übungssätze total vergessen hatte. Aber ich konnte sie ja leicht, gedeckt durch meinen Vordermann unbemerkt voneinem Kameraden abschreiben - und da machte ich einen schweren taktischen Fehler! Ich hätte das Heft bloß vor mich auf das Pult zu legen brauchen, legte es aber zwischen mich und meinen Nachbarn unten auf die
Bank - so mußte ich bei jedem Satz dem Kopf zur Seite drehen und mich hin-unterbeugen, und das wurde mir zum Verhängnis: "Hünerbein, was machen Sie da?" Ich habe mich stets bemüht, ohne direkte Lügen auszukommen und ver-suchte es mit Diplomatie: "ich schreibe nach, Herr Studienrat!" Das traf ohne Zweifel fast zu, hätte aber eigentlich, um bei der vollen Wahrheit zu bleiben "ab" heißen müssen. Er trat zu meinem Platz und ergriff das Heft und fand sofort die Seite mit den noch feuchten französischen Sätzen. Er ging wortlos wieder auf das Katheder, und das war bedrohlich: mit Sicherheit würde er den Vorfall unserem Kompaniechef melden.
Jedesmal vor dem Mittagessen trat die ganze Kompanie auf dem Appellplatz an für Dienstanweisungen, Postverteilung und - gegebenenfalls - Bestrafungen vor versammelter Mannschaft - und da hatten wir den Salat: "von Hünerbein, vortreten". Ich bestrafe sie mit 24 Stunden Arrest wegen Betrügens eines Vorgesetzten!!" Dann wurde ich dem Unteroffizier vom Dienst überantwortet und in die Zelle abgeführt, dort (Zur Verhinderung eines Fluchtversuches
meiner Hosenträger beraubt und eingeschlossen. Dieser, Karzer war keinesfalls ein "Kerker", sondern ein ganz gewöhnliches Zimmer wie die anderen mit einem großen unvergitterten Fenster und die Wände halbhoch getäfelt wie überall. Allerdings bestand das Mobiliar nur aus einem kleinen nackten Holztischchen und einem Schemel. In der ebenfalls normalen Tür befand sich ein Fensterchen, von außen zu öffnen, außerdem gab es einen Klingelknopf für die menschlichen "Bedürfnisse".
Auch die "24 Stunden" erwiesen sich als bedeutend Kürzer: ich besuchte mit den anderen den ganzen Vormittag den Unterricht und wurde abends in den gemeinsamen Schlafsaal eskortiert.
Als eigentliche Strafe sollte ich einen Aufsatz schreiben und, da sich meine "Untat" in der Geographiestunde ereignet hatte, das gerade anstehende Thema "Die Schweiz". Mit stand ein vorzügliches Gedächtnis bei und eine ganze Menge Phantasie, und so habe ich eine beachtliche Zahl von Seiten gefüllt.
Meine große Besorgnis war, daß meine Bestrafung sich auf meine Note und mei-nen Platz in der Klasse, sowie auf meinen Rang auf der Kompanietafel negativ auswirken würde, aber hier war es auch wieder der "Aufsatz", der gewirkt hatte - nach erheblichem Bangen kamen die Zeugnisse - und alles war für mich beim alten geblieben!
Nun ist noch auf weitere Baulichkeiten einzugehen. Zum zivilen Personal gehörten etwa ein Dutzend sog. "Aufwärter" für die Säuberung aller Räumlich-keiten (u n d unserer Stiefel), sowie der Instandhaltung des Geländes. In der Verlängerung der Flügel des Hauptbaues bewohnten sie mit oder ohne Familie kleine Doppelhäuser mit etwas Platz für einen Gemüsegarten und Kleintierhaltung.
Es wurde bereits gesagt, daß die Anstalt eine zentrale Heißluftbeheizung besaß, und dafür gab es ein eigenes "Heizwerk", das auch die Wäscherei und - im Winter - ein hübsches kleines "Schwimmbad" versogte. Es hatte, ineinander übergehend ein Schwimmbecken mit Sprungbrettern und eins für Nichtschwimmer. Dahinter befanden sich Duschen und Fußwaschbecken für die Körperreinigung, Bänke für das Niederlegen der Kleidung und Reihen von Kleiderhaken.
Im Freien und im Anschluß an einen Querweg gleich hinter der Rückfront des Speisesaals befand sich eine Freifläche über die ganze Breite, mit einer Reihe von Bäumen umgrenzt. Auf beiden Seiten standen ein Reck und ein Barren (zuweilen auch für Turnunterricht verwendet). Immer hing einer an der Stange, um mit Klimmzügen einen Rekord aufzustellen oder am Barren "Datum zu p u m p e n": auf dem Barren im Stütz erst kräftig nach vorn schwingen und dann durch den Hang wieder zurück - und dies mindestens so oft, wie es dem Datum entsprach. Am Monatsanfang bis zu seiner Mitte mehrmals, schließlich aber doch bis zu 31 mal. Gelegentlich wurde an den beiden Geräten auch Unterricht im Freien erteilt.
In Längsrichtung befand sich eine Art von "Hindernisbahn": erst eine etwa 1 m tiefe Sandgrube, dann ein soenanntes "Eskaladiergerüst", gut 2 m hoch. Vorn offen mit Leitern, Tauen und Kletterstangen, auf der anderen Seite mit einer festen Bretterwand und oben einer Plattform, deren Rand man nur im Sprung erreichen konnte, die Kleineren nur mit Hilfestellung. Die Strecke mußte hin und zurück möglichst schnell durchlaufen werden im Einzelwettbewerb oder zwischen Staffeln.
Auf unserer Seite befand sich auch noch ein "Schwebebaum", kein so elegantes Ding wie heutzutage, auf dem schon kleine akrobatische Mädchen Weltrekorde aufstellen und Goldmedaillen gewinnen, sondern ein dicker roher Baumstamm. Man betrat ihn einzeln von den Enden, bewegte sieh seit lieh, Brust gegen Brust, mit ausgestrecktem Arm und flacher Hand aufeinander zu und versuchte den Gegner zum Abspringen zu zwingen solange, bis man als letzter Sieger blieb.
Hinter einem weiteren Querweg lag ein regulärer "Fußballplatz" mit 2 Toren aus kräftigen Balken, aber ohne Netz. Er war schon etwas in den Hang eingeschnitten und nach hinten mit einer etwa 2 m hohen Böschung abgeschlossen. Sie wurde von einer langen hölzernen überdachten "Kegelbahn" gekrönt, von Wind und Wetter mitgenommen und also schon lange außer Betrieb. Nun folgte noch eine kleinere Gartenanlage mit Rasen, Büschen und Bäumchen, mit Spazierwegen, aber ich habe nie jemanden darin herumgehen sehen.
Einmal ist ein denkwürdiger "Fußball-Wettkampf" veranstaltet worden "Jung" (bis Quarta) gegen "Alt" (ab Untertertia). Nun hatte es tagelang geregnet Jnd das Spielfeld glich eher einem Morast, und dieser Zustand verschlechterte sich durch das Spiel auch noch. Wir Älteren hatten das Handikap größer und schwerer zu sein, während uns die Kleinen mit ihrem tiefliegenden Schwerpunkt standfester waren und uns behende zwischen den Beinen hindurchflitzten, kurzgesagt: wir wurden haushoch geschlagen! Bei jedem Schuß landeten wir bäuch- oder rücklings im Schlamm, und der Ball führte eine Dreckfontaine mit sich auf den Gegenspieler. Es war eine rechte Viehcherei aber zugleich eine Mordsgaudi!!
Außer diesem Sportspiel gab es damals nur noch den "Schlagball", ein Wurf- und Laufspiel mit einer Keule und einem faustgroßen Lederball, nicht unähnlich dem englischen "Crickett", aber inzwischen längst ausgestorben.
Diese Aufzählung ist mit dem "Wassersport" abzuschließen. Für den Sommer war in einer Ausbuchtung der Saale eine Badegelegenheit geschaffen worden. Zu ihr hinzu aber war, wegen gelegentlichen Hochwassers auf Pfähle gesetzt, ein Schuppen mit einem ganz modernen Rennruderboot für jede Kompanie, einen "Vierer" mit Steuermann.
Das Rudern auf der Saale stellte besondere Anforderungen an Kraft und Geschick, denn der Fluß war an der Stelle ziemlich reißend. Die Wassertiefe war nur verhältnismaßig gering, außerdem das Flußbett felsig, so daß sich Stromschnellen gebildet hatten und an manchen Stellen sogar der nackte Stein hervorschaute.
Bei der Größe der Anstalt war auch ein eigenes "Lazarett" erforderlich: es lag auf der anderen Straßenseite auf einem eigenen Gelände inmitten eines großen schönen Gartens, mit den Krankenzimmern und Behandlungsräumen, sowie einigen Dienstwohnungen (Arzt und Anstaltsgeistlicher).
Es ist noch zu ergänzen, daß links und rechts von unserem Gelände gepflasterte Straßen die Anhöhe hinaufführten, links unten mit einigen wenigen Privathäusern, sonst Äckern und Wiesen. Rechts lag ganz oben die "Holländermühle", nicht mehr in Betrieb, aber für militärische Zwecke (also auch für uns) ein weit sichtbarer Orientierungspunkt.
Bei manchen Leuten wurden unsere Anstalten schulisch nicht für voll angesehen, aber wenigstens für Naumburg konnte das nicht gelten wegen ihres ausgezeichneten Lehrkörpers. Wie meist gab es unter ihnen manches "Original" (ich führe das nicht zuletzt auf die "dichte" Atmosphäre in solch einem Haus zurück und dem nahen Umgang mit einer Horde von selbstbewußten und aufgeweckten Knaben, aber das konnte der wissenschaftlichen Qualität des Unterrichts keinerlei Abbruch tun.
Infolge der sorgfältigen Auswahl waren alle kräftig und gesund, so daß es wenig Krankheitsfälle gab außer leichten (mich erwischten die Röteln noch dazu ganz schwach. Aber es war nun einmal eine Infektionskrankheit, und ich wurde daher in unserem Lazarett in die Quarantäne gesteckt - ohne Fieber und Schmerzen der reine Erholungsurlaub).
Im Frühsommer 1918 brach im ganzen Land eine epidemische "Influenza" (wie man damals unbestimmt eine Grippe nannte). Sie trat in Begleitung manchmal schwerer Lungenentzündung auf, und auch wir wurden davon nicht verschont. An einem Montagmorgen fühlte ich mich schon sehr schlecht, wanderte also gleich ins Revier und, während ich dort noch auf den Arzt wartete, stellte sich so starker Schüttelfrost ein, daß mir die Zähne nur so zusammen schlugen - ich hatte bereits 42 Grad Fieber; also ab ins Lazarett.
Die Krankheit verlief völlig normal, und pünktlich nach 14 Tagen trat die "Krisis" ein: über Nacht verschwand das Fieber völlig und der Puls war wieder normal ("kritisch" hätte es nur werden können, wäre der Puls noch weiter gestiegen: dann hätten die beiden Kurven auf der Krankentafel das sog. "Todeskreuz" gebildet). Ich aber wachte an einem Morgen zum erstenmal nach erquickendem Schlaf frisch und munter auf und fühlte mich wie neugeboren. Das verführte mich dazu, mit einem Satz aus dem Bett zu springen - und ich landete "platsch" auf dem Erdboden! Zwei Wochen Fieber und eine Ernährung, die nur aus einer mageren Brühe und Selterswasser oder Tee bestanden hatte, tat ihre Wirkung: die Beinmuskeln waren derart geschwächte, daß ich das Gehen erst wieder neu lernen mußte. Da zeigte sich nun unser Kompaniechef sehr hilfreich, der öfter zu uns kam, um nach uns zu sehen. Er faßte mich unter den Arm und schleppte mich geduldig im Lazarettgarten von einer Bank zur andern. Das hat gewiß dazu beigetragen, daß ich frühzeitig entlassen werden und einen Erholungsurlaub in Eisenach antreten durfte.
Ein Ausweis sorgte für bessere Zuteilung von für die Kräftigung wichtigen Lebensmitteln, aber ein guter alter Großonkel half noch mit. Zwei wesentlich jüngere Brüder meines Großvaters hatten als schneidige Leutnants über die Verhältnisse gelebt und große Spielschulden gemacht, die sie nie je hätten tilgen können und deshalb hatten den Dienst quittieren müssen. Nicht selten setzte man sich in die USA ab, wo preußische Offiziere im Andenken an den dort hochverehrten General von Steuben, für den auch heute noch in jedem Jahr eine Parade abgehalten wird, nicht unwillkommenwaren. Beide haben dort jedoch kein Geld gescheffelt und auch kein Millionärstöchterchen ehelichen können, sondern sich gerade so eben schlecht und recht durchgebracht. Inzwischen war der Jüngste drüben verstorben, während der Onkel Gustav nach England verzogen und dort gelebt hat bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges. Noch gerade nach Deutschland zurückgelangt, meldete er sich sofort freiwillig, obwohl für den Militärdienst schon viel zu alt. Als ehemaliger Oberst wurde er dann doch in Westrußland als Ortskommandant eingesetzt; es war auf dem flachen Land, wo noch keinerlei Mangel herrschte. So erschien bei uns ein Kurrier mit einer großen Kiste mit sage und schreibe - 60 (!) Eiern und noch einigem andern mit der Anordnung, mir zu jedem Frühstück ein "Klepper-Ei" zu verabfolgen: Eiweiß und Eigelb mit soviel Zucker und so lange geduldig geschlagen, bis eine dickflüssige sahnige Créme entstanden war. Weiß und Gelb wurden dann gründlich miteinander verrührt, dann kam noch ein Schuß starker Südwein hinein. Wenn schon an sich eine Delikatesse, so erst recht in der mageren Kriegszeit - ich bin diesem Hochgenuß bis heute treugeblieben! Früher als berechnet war ich wieder ganz gesund und konnte nach Naumburg zurückreisen.
Dort gab es bald eine große Überraschung: wir wurden zum 1. November auf einen Sonderurlaub nach Hause geschickt - ohne Angabe von Gründen, doch das Rätsel löste sich nach wenigen Tagen von selbst. In der Anstalt wurde keine Zeitung gehalten, und so hatten wir auch nichts davon erfahren, daß es in der Truppe und der Bevölkerung wegen der verzweifelten militärischen Lage und der immer schlechteren Verpflegung revoltierte. Auch unsere Vorgesetzten und Verwandte hatten uns das verschwiegen, um uns nicht zu beunruhigen.
Am denkwürdigen 9. November kehrte meine Großtante von einem Einkauf in höchster, Aufregung heim: in offenen Lastwagen mit roten Fahnen führen bewaffnete Arbeiter und Urlauber in der Stadt umher und gröhlten leicht angetrunken «die "Internationale" - es sei Revolution !! Im Gegensatz zu Industriezentren lief in Eisenach alles ziemlich harmlos aus. Es gab keine Ausschreitungen oder gar .Plünderungen; auch wurden Offizieren in Uniform keine Achselstücke abgerissen oder die Säbel zerbrochen-. und keiner wurde angepöbelt und bedroht wie vielfach anderswo.
Als wir am Ende des Monats wieder in die Anstalt zurückfuhren, fanden wir kaum etwas verändert. Zwar war von oben der Befehl ergangen, an den Dienstmützen die schwarz-weiß-rote Kokarde zu entfernen, da ja jetzt die Nationalfarben in schwarz-rot-gold abgeändert worden waren (von uns Reaktionären verspottet als schwrz-rot-senf ). Unsere durchweg noch kaisertreuen Offiziere hatten sich strikt geweigert, die Kokarde zu entfernen, aber der Befehl dazu war außerhalb der Anstalt niemandem bekannt, und so blieb alles - auch für uns Kadetten - beim alten.
Der Sonderurlaub hatte für uns noch ein sehr unerfreuliches Nachspiel: der Weihnachtsurlaub wurde gestrichen! Zum erstenmal wurde ich nicht zu Hause unter dem Lichterbaum stehen "unter dem Weihnachtstisch" wie meine Großtante jedesmal sagte . Man gab sich zwar in der Anstalt die größte Mühe, da Fest für uns schön zu gesalten und unser Koch hatte sogar etwas Besonderes für die Feiertage herbeigezaubert; die Anverwandten übertrafen sich mit Paketen und Päckchen selbst - aber es war doch sehr, sehr traurig.
Für eine Zeit wurden wir von der Öffentlichkeit ferngehalten und erfuhren kaum etwas von der Entwicklung draußen. Jetzt zogen auf der Straße an der Anstalt vorbei lange Kolonnen der von Westen heimkehrenden Truppe und gerade, daß sie in voller Ordnung mit allen Waffen und vorn mit ihren Offizieren hoch zu Roß in ihre Heimatgarnisonen marschierten, wo sie sich auflösten, machte uns traurig klar, daß der Krieg endgültig verloren war.
Der Betrieb in der Anstalt lief wie gewöhnlich weiter, aber es war jedem klar, daß nach dem verlorenen Krieg die Tage der Kadettenanstalten gezählt sein würden, trotzdem zögerte es sich noch mehr als ein Jahr hin. Erst der Versailler Vertrag enthielt die Forderung zur Auflösung - als Termin dafür war der 10. März 1920 festgesetzt. Für uns in Naumburg ging das sang- und klanglos vor sich, denn wir waren schon frühzeitig in die Osterferien geschickt worden. Nur an der Hauptkadettenanstalt in Großlichterfelde ist ein feierlicher Schlußpunkt gesetzt worden. Am Morgen setzten sich die rund 1000 Kadetten in voller Uniform und mit Gewehren, die Offiziere zu Pferd mit gezogenem Degen voran und mit klingendem Spiel in Zwölferreihen zu den "Linden" in Bewegung: nach einem preußischen Parademarsch und einem letzten "Hurra" auf seine Majestät den Kaiser kehrte man still in die Kaserne zurück und zog die Uniform endgültig aus; aus der doch politisch sehr unterschiedlichen Bevölkerung, die für dieses Schauspiel die Straßen säumte, hatte es nicht den geringsten Protest gegeben!
Es wurde sofort eine "kameradschaftliche Vereinigung ehemaliger Kadetten" gegründet und alle darin aufgenommen; ein Zusammenhaft ist aber auf die Dauer nicht zustande gekommen: Wir waren in alle Winde zerstreut und verloren uns aus den Augen.
In späteren Jahren habe ich in einem Ministerium einen Kameraden von der 2. Kompanie in Naumburg wieder getroffen, aber mit ihm hatte ich damals keine Berührung. Ein andermal bin ich auf der Messe in Hannover sogar einem alten Kameraden begegnet, der in der dortigen Siemensniederlassung tätig war, aber das hat die Vergangenheit nicht wieder aufleben lassen. Als ich mich schon eine ganze Weile im Ruhestand befand, zog in meine unmittelbare Nähe, wie sich zeigte, ein ehemaliger, mir aber völlig unbekannter Kadett zu, der anscheinend in unserer Vereinigung noch aktiv war. Anhand meines auffallenden Namens hatte er mich aufgetan und schrieb mir einen langen Brief: der Hauptinhalt war ein blumenreicher Bericht über ein Treffen in Süddeutschland, das durch die Teilnahme einer "kaiserlich/königlichen Hohheit" außergewöhnlichen Glanz erhalten hatte! Ich antwortete sehr höflich, daß mir wenig sinnvoll erschiene, abgerissene Verbindungen nach mehr als einem halben Jahrhundert neu zu knüpfen: ich habe durchaus noch etwas für "Monarchie" übrig, aber das Treffen hätte für mich doch etwas zuviel "Patina" gezeigt. Ich bedankte mich, wünschte alles Gute - und habe nichts wieder gehört.
In der Schule gab es eine gerade für mich wichtige Veränderung. Schon in der Obertertia hatten wir einen sehr guten Deutschlehrer, einen "Krohn".
Weil es sich um mein Lieblingsfach handelt, nenne ich hier einmal ausnahmsweise Namen, die doch nur mir etwas sagen. Er war ein quecksilbriger kleiner Mann mit einem kahlen Kugelkopf und listigen Augelchen. Mich hat er immer an den König Alberich aus der Nibelungensage erinnert, der mit sei-nen Töchtern den Schatz im Rhein bewachte. Wegen meiner Vorliebe für Deutsch war ich bei ihm wohlangesehen. Wir waren gerade bei Goethes Aufenthalt in Straßburg, ich sollte darüber berichten und legte flott los: "...wohnte auf der Sonnenseite des Fischmarktes Nr. 80 bei den beiden alten Jungfern Plauth...", da unterbrach mich "Kröhnchen": "Sehr schön mein lieber Hünerbein, das lassen Sie ruhig weg, das vergessen Sie doch gleich wieder!" Und just daher kommt es, daß ich es heute nach 70 Jahren noch wortwörtlich weiß!
Eine reizende Anekdote dazu möchte ich nicht unterschlagen. Es soll da eine uralte Dame gegeben und erzählt haben: "Ja, den Herrn von Goethe habe ich selber noch gekannt. Was war er doch so klug und freundlich, und was hat er seine Friederike so lieb gehabt. Aber dann ist er eines Tages plötzlich fort-gezogen und man hat nie, nie wieder etwas von ihm gehört".
Zu Beginn der Untersekunda erhielten wir einen neuen Deutschlehrer, einen Prof. "Frhr. von Danckelmann" (nur Kenner der frühen preußischen Geschichte werden wissen, daß einmal die "sieben Danckelmänner" Berühmtheit erlangt haben: Brüder die alle 'unter dem Großen Kurfürsten hohe Staatsämter bekleidet haben).
Dieser nun war mehrere Jahre an einem Gymnasium in Rom tätig gewesen und dann an ein Vorkorps im Westen versetzt worden. Dieses wurde nach dem Einmarsch der französischen Truppen geschlossen und die Lehrer bei anderen Vorkorps verwendet, so er bei uns in Naumburg.
Er war ein sehr gebildeter, geist- und temperamentvoller Mann. Uns erteilte er einen Unterricht mit einem uns bisher unbekannten Schwung. Aus klassischen Dramen" wurde nicht bloß vorgelesen, sondern mit "verteilten Rollen", er selber voran. Beimerstenmal, als er hocherhobenen Hauptes auf dem Katheder stand mit rollendem "r" lebhaften Gesten, konnten wir uns eines Kicherns nicht enthalten; er blitzte uns durch die Brille an und donnerte: "Werr lacht ohne Grrund das leid ich nicht!!" - und nun prusteten wir los. Aber es gelang ihm leicht, uns Jungen richtig zu begeistern. Das ging sogar soweit, daß er mit uns eines Abends zu einem Sitzplatz an einem Höhenweg mit weitem Blick über das Saaletal führte und mit uns beim Schein der Kerze einer Laterne Goethische Lyrik las. Auch bei ihm machte ich mit meiner literarischen Belesenheit und meinen Aufsätzen Eindruck.
Eines Tages gab er uns einen Hausaufsatz auf mit dem Thema "Was zieht uns Deutsche nach dem Norden?". Meine Kenntnis von Land und Leuten beschränkte sich auf eine schöne farbige Abbildung eines Fjordes in unserem Erdkundebuch - mit der nordischen Sagenwelt sah es schon besser aus.
Nun zieht es uns Deutsche ja nicht nur nach dem Norden, sondern bekanntlich mindestens ebenso nach dem "Süden" ("Kennst du das Land, wo die Zitronen... dahin, dahin... ). Das brachte mich auf die Idee, dem Ganzen die Form eines Sängerwettstreites zu geben - themengemäß mit einem leichten Plus für den Norden und dann in Gedichtform, aber nicht mit Reim hinten, sondern stilgerecht in "Stabreimen"! (Bei diesen verwendet man in einer Zeile oder Vers möglichst viele Wörter mit dem gleichen Anlaut, Vokal oder Konsonant, und erzielt damit eine Art von Reimwirkung wie z.B. am Beginn des "Hildebrand" -Liedes:
"Welaga nu waltan god, whwurz skihit;
ich wallota sechtig wintri ur lante...“
Für einen Hausaufsatz erhielt man meist eine Woche Zeit und schob die Arbeit vor sich hin, bis der Abgabetermin drohte und das den nötigen geistigen Überdruck erzeugte. So setzte ich mich erst am Sonntag Morgen in eine stille Ecke - und schrieb und schrieb wie im Rausch fast ein ganzes Heft voll. Ganz er-schöpft hatte ich weder Lust noch Kraft, alles noch einmal zu überlesen und gab am folgenden Morgen den Aufsatz unbesehen mit etwas gemischten Gefühlen ab. Umso überraschter war ich dann, darunter das Urteil zu finden:
"Sehr gut ! - zeugt von großem dichterischem Talent !"
Solcherlei Euphorie im Hinblick auf mich war mir immer etwas verdächtig, war ich mir doch dessen bewußt, daß ich zwar allerlei Begabungen hatte, aber die meisten solche geblieben sind. Ich hielt es da lieber mit Wilhelm Busch und seiner "Jobsiade":
"Bei diesen Worten des Kandidaten Jobses
geschah ein
allgemeines Schütteln des Koppses:
es ist
nichts mit dem Hironimus - ehem, ehem;
darauf secundum ordinem
Mit dem "secundum" hat es sich auch stark in Grenzen gehalten. Bis heute kann ich es nicht lassen, ab und zu ein kleines Gedicht zu schreiben, das einen Vergleich mit Größeren durchaus nicht zu scheuen braucht, aber mehr als eine Liebhaberei ist nicht herausgekommen.
Immerhin, mein Aufsatz machte einiges Aufsehen - dank der Mithilfe meines Leh-res. Er hatte weitreichende, auch ausländische Verbindungen zu Schriftstellern und Germanisten, und so schickte er mein Gedicht zunächst an einen Dozenten an der Universität in Uppsala in Schweden. Er wurde nicht nur freundlich und anerkennend aufgenommen, sondern sogar als Stoff für den Deutschunterricht verwandt. Außerdem erhielt ich ein liebenswürdiges Schreiben und einen sehr hübschen Bildband mit farbigen Abdrucken von Aquarellen, lieblichen Frühlingslandschaften aus dem südlichen Teil, für die Schweden bekannt ist.
Die Korrespondenz, obwohl auf Deutsch, erweckte mein Interesse an der schwedischen Sprache; ich befaßte mich näher mit ihr und brachte es wenigstens soweit, daß ich sie leidlich lesen konnte. Nun ist es immer dasselbe: wenn man nicht dauernd Gelegenheit hat, es praktisch anzuwenden, so schläft das Ganze bald ein. Mir ist kaum mehr geblieben, als die Aufschrift auf den Schachteln mit "Säkerheets-Tändstikkar" - "Utan Swofel ok fosfor" des unglücklichen Herrn Ivar Kreuger, der aus dem Flugzeug fiel und nie mehr gesehen wurde. Hier könnte ich noch von manchem anderen Fehlversuch berichten, will es aber bei dem letzten sehr viel späteren belassen. Nach dem Zusammenbruch 1945 eine Weile im östlichen Niedersachsen auf dem Lande, lernten wir in einem Nachbardorf ein nettes deutsch-russisches Ehepaar kennen, das Unterricht in seiner Sprache mit solchem in Englisch tauschte. Für mich fand das aber bald ein Ende, weil wir fortzogen. Als Erbe besitze ich aber einen ganzen Satz von abgrundtiefer Bedeutung: "Rabotnik rabotajet c'muschikom" = "der Arbeiter arbeitet mit dem Bauern" - "na dwarni = auf dem Lande", überraschenderweise.
Eine weitere Aktion meines Lehrers für mich bestand darin, daß er mein Gedicht an einen Dozenten der Germanistik an der Uni Jena sandte, der damals als deutscher "Literatur-Papst" galt. Er schrieb sehr huldvoll zurück und schenkte mir zwei Bücher, eine mittelhochdeutsche Grammatik aus eigener Feder, die mir gefiel (ich mag nun einmal Grammatiken) und ein gräßliches hölzernes Bändchen über "formale Logik" mit solchen blutleeren Begriffen wie "conditio sine qua non" oder "contradictio in adjekto". Wichtiger war seine freundliche Bereitschaft, mir zu gegebener Zeit für ein Stipendium behilflich zu sein. Einen dritten Fall erzähle ich später.
In Süddeutschland hatte sich im März der "Kapp-Putsch" ereignet. Aus reaktionären Kriegsteilnehmern, Offizieren und Mannschaften war eine "Brigade Ehrhardt" aufgestellt worden, in Divisionsstärke mit voller Bewaffnung unter wohlwollender Mithilfe der "Reichswehr", die sich ansonsten neutral verhalten mußte. Man marschierte unbehelligt durch mehr· ländliche Gegenden nach Norden, um endlich in Berlin die Regierung zu stürzen und die Republik wieder abzuschaffen. Man erwartete starken Zuzug in einer richtigen Volksbewegung, sah sich aber schließlich getäuscht. Nur wenige hatten Lust, von neuem Soldat zu spielen, womöglich in einem Bürgerkrieg. Als das berühmte ''totgeborene Kind, das im Sande verläuft", tat dies auch die ganze Unternehmung, im Grunde eine Spielerei.
Zunächst wurden in manchen Orten Verbände von „Zeitfreiwilligen“ aufgestellt, so auch in Eisenach. Was tut ein noch gestern königlich preußischer Kadett? - er meldet sich sofort.
Unsere Hauptaufgabe bestand in der Bewachung lebenswichtiger Einrichtungen wie der Bahnhof, das Gaswerk und das Postamt, dem ich zugeteilt wurde. Die Ausrüstung mit Militärmantel und Stahlhelm, sowie Gewehr, Munition und Handgranaten hatten auch wir von der Kaserne erhalten. Es herschte Streik und bei Einbruch der Dunkelheit Ausgehverbot. Dann mußte man auf dem Podest vor dem Haupteingang in voller Kriegsbemalung Posten stehen; die Tür hinter einem wurde abgeschlossen und statt dessen eine starke elektrische Lampe eingeschaltet - eine wirklich geniale Maßnahme. Da stand man nun mutterseelen allein als Einziger auf dem stockdunklen Marktplatz grell angeleuchtet - jeder hätte einen mit einem Blasrohr wegputzen können. Die Wache dauerte jeweils zwei volle Stunden und schien einem endlos. Ich versuchte mir die Zeit damit zu verkürzen, daß ich mir Schiller's Mammutgedicht, die "Glocke" möglichst langsam aufsagte: das dauerte genau ein Viertelstunde - oh Stumpfsinn! Einen militärischen Einsatz haben wir nur ein einzigesmal erlebt. Nach einem Gerücht, sollten sich weiter östlich in einem Wäldchen bewaffnete Kommunisten verschanzt haben und die Transporte auf der Fernstrecke bedrohen. Man steckte uns alle in Güterwagen und fuhren dort hin. Wenn da überhaupt jemals ein "Feind" gewesen war, wir fanden niemanden vor und kehrten unverrichteter Dinge zurück.
Nach einer guten Woche traf die Spitze der Brigade in Eisenach ein und wir wurden von ihr abgelöst und in Gnaden nach Hause entlassen, nachdem wir unsere Ausrüstung zurückgegeben hatten - aber doch nicht ganz! Wir hatten sogar ein Maschinengewehr besessen, das hinter dem offenen Fenster über dem Eingang zur Post auf einem Tisch drohend auf den Marktplatz blickte. Dieses haben wir einfach mitgehen heißen in einem etwas beschädigten Reisekoffer, und beinahe wäre dabei etwas schief gegangen: beim Aufsteigen auf die Straßenbahn und durch ruckartiges Anheben riß einer der Griffe ab und der Deckel begann sich vor aller Augen zu öffnen - wir konnten nur gerade zuspringen und ihn an uns raffen. Er wurde dann von unseren patriotischen Freunden übernommen und einstweilen bis zu besseren Zeiten versteckt. Solche "Entwendungen" waren keine Seltenheit - eine sehr viel drastischere habe ich - wenn auch nicht direkt - miterlebt.
Einmal besichtigte ich aus beruflichen Gründen eine Geschützstellung oberhalb von Baden-Baden über den Rhein nach Frankreich gerichtet zur Verstärkung des "Westwalls". Es handelte sich um zwei 38cm-Rohre, ursprünglich für den Geschützturm eines Schlachtschiffes bestimmt, aber aus unbekannten Gründen nie eingebaut. Auf den Rohren war deutlich zu lesen: "Fried.Krupp AG Essen 1906".
Damit, daß das "Friedrich" ohne "r" abgekürzt war, hatte es seine besondere Bewandnis: die Firma hielt aus historischen Gründen starr an dieser Schreibweise fest; sie hat sich einmal bei uns geharrnischt beschwert, als in einem Schreiben von uns nicht äufgepaßt worden war! Nun bestehen auch andere Leute mit Recht darauf - z.B. wir selbst mit, bzw. ohne das "h" in der Mitte. Auch so wurde unserem - an sich doch sinnfälligem Namen übel mitgespielt. "Himerbein" war poch das Harmloseste, der Gipfel aber "von Hunorbusie", auf den sich ein Zeitschriftenverlag versteift hatte.
Einmal war ich zu einem höheren Herrn zu einer Besprechung gerufen worden; als ich mich bei der Sekretärin anmeldete, kicherte sie albern: "Nein, was ein komischer Name!" Da nahm ich alle Hochnäsigkeit zu Hilfe: "Finden Sie, mein liebes Fräulein? W i r haben uns in den letzten 1000 Jahren ganz gut daran gewöhnt!" - und ließ sie mit offenem Munde stehen.
Als 1916 die Insel Oesel besetzt worden war, wurde die Batterie als Küstenschutz eingesetzt; nach dem verlorenen Krieg verschwand sie, und ist irgendwo - trotz ihrer gewaltigen Größe (es kam nämlich für jeses Rohr noch ein Leitstand in der Größe eines kleinen Einfamilienhauses hinzu) im märkischen Sand eingebuddelt worden und dann erst 1935 nach der vollen Wehrhoheit ans Tageslicht gekommen. Wegen des raschen Vormarsches, der die Maginotlinie überrannt hatte, wurde die Batterie abgebaut und unter dickem Beton an der Kanalküste wieder am "Cap Gris Nez" eingebaut. Eines Morgens saßen wir in dem benachbarten Bad Wimereux gerade beim Frühstück, als es einen starken Knall gab und Fenster und Türen aufsprangen: Batterie "Kurfürst" hatte ihre ersten Probeschüsse Mitte Markt Dover abgegeben! Unter der Wucht der "Invasion" hatte sie dann ein unrühmliches Ende gefunden ....
Wieder zurück in Naumburg fanden wir einiges verändert vor: Militärs und alles sonstige Militärische, auch unsere eigenen Uniformen, war verschwunden. Von den Lehrern waren nur die Zivilisten geblieben und diejenigen Reserveoffiziere, die von Beruf Lehrer waren; sie brauchten ja nur den Rock zu wechseln. Sonst war organisatorisch alles beim Alten geblieben - mit einer einzigen Ausnahme.
Bei manchen gab es Bedenken, daß es in einer solchen Männerwirtschaft den ganz jungen, die doch noch richtige Kinder waren, an einer mütterlichen Hand gefehlt hatte - das wurde nun geändert. Während bisher die Klassen in den Stuben gemischt gewesen waren, wurden nun die Sextaner und Quintaner herausgezogen und auf zwei eigene Abteilungen verteilt, und sie erhielten jetzt doppelt ausgedrückt - weibliche Erzieher innen, so auch meine 5.
Ich blieb auch weiter "Ältester", hatte aber mehr als früher an der Erziehung teil - das brachte mich der "Fr. Doktor" näher. Eigentlich hatte sie auf diesen Titel keinen Anspruch; aber fast jeder nannte sie einfach so - ihrer starken Persönlichkeit, ihren Fähigkeiten und ihrem bestimmten Auftreten nicht unangemessen. Sehr bald freundete ich mit ihr an; sie fand Eingang in Eisenach und wurde bald ganz zur Familie gezählt.
Unser gegenseitiges Verhältnis hatte durchaus etwas Sohn-Mutter-Verhältnis an sich, besonders für jemanden wie mich, der seine eigene Mutter nie gekannt und erlebt hatte; aber dennoch reichte das bei der Stärke der Gefühle nicht aus. Sehr idealistisch und romantisch war es eine sehr feste Bindung: sie hat es vermocht, mich die Sturm- und Drangzeit im tiefsten Innern unberührt und unversehrt überstehen zu lassen.
Davon muß etwas ausgestrahlt haben, denn wer auch immer um uns - Eisenach, mein Onkel und Vormund, Anstalts- und Schulleitung, Freunde und Bekannte - bestimmt niemand hat in unserer Beziehung etwas Ungutes gefunden oder geargwöhnt!
"Tante" wäre eine schrecklich trivale Bezeichnung gewesen - so wurde sie für uns in aparter Abwandlung ihres Mädchennamens - unsere "LIL".
Die andere Erzieherin auf unserer Seite war eine damenhafte Erscheinung, sehr sanfter Wesensart, wickelte ihre Jungens mit ihrer Anmut nur so um den Finger. Sie hatte eine nicht sehr große, aber hübsche lyrische Singstimme; in ihrem Zimmer stand ein Stutzflügel, auf dem sie sich selber begleitete, weniger sie als dieser hatte Anziehungskraft für mich. Fast wie eine Parallele zu uns war sie mit einem jungen Adeligen aber stärker liiert, der sie öfter besuchte. Er hatte mancherlei Gaben, auch künstlerische; er war ein geschickter Bastler auf dem Gebiet des Rundfunks und verdiente gut daran. Auf der anderen Seite war er geistig interessiert und neigte zum Buddhismus und hatte sich dem Yoga verschrieben und anderen östlichen Praktiken. Noch im ersten Jahr heirateten die beiden und entschwanden damit unserem Gesichtskreis. Ich muß betonen, daß ich sie mir in Bezug auf Lil nicht zum Vorbild nahm.
Nachfolger wurde diesmal ein jüngerer Mann, ein seltsamer verquerer Typ mit auffallendem Namen "Nelkenbrecher" ("so sähnse ooch aus", würde König August von Sachsen sicher gemeint haben). Aber mir begegneten noch andere "Typen". Neu in unsere Klasse kam einer, dem stechende Augen und eine schwarze Haarspitze ein Stück die Stirn hinab einen mephistophelischen Gesichtsausdruck verlieh. Er beschäftigte sich auch mit allem möglichen "magischem Kram" und versuchte mich damit zu beeindrucken. Nun bin ich bei meiner lebhaften Fantasie nicht schwer zu beeindrucken; aber ich hielt es mit dem "Faust": "man merkt die Absicht - und man wird verstimmt!"
In den Entwicklungsjahren entdeckt mancher bei sich eine Neigung zu fernöstlicher Geistigkeit. Ich kam darauf durch den wirklich großen indischen Dichter "Rabindranath Tagore". Aber dann trat in unseren landen ein "Bo Yin Rá" auf keiner der üblichen "Gurus" mit zahlungskräftigem Gefolge, sondern ein Autor und eigener Herausgeber schmaler Bändchen mit solchen Titeln wie "Buch der Weisheit", "Buch der Liebe" - eins nach dem andern wurde ihm geradezu aus den Händen gerissen. Nach den Schrecken eines Krieges und sogar eines verlorenen, pflegt sich aus innerer Unsicherheit eine Welle des "Mystizismus" zu erheben. Die Büchlein enthielten daher Meditationen in der Gestalt der indischen "Upanishads" - je unverständlicher, desto begehrter.
Es sollte sich aber um einen Deutschen mit einem ganz schlichten bürgerlichen Namen handeln, der sich vorher als Maler minderer Güte durchgebracht hatte. Dies gab ihm den Gedanken zu einem Bildband mit Aquarellen aus seiner Hand ein, der in seltsamen Formen und Farbgebung zum Verständnis seiner mystischen Vorstellungen beitragen sollte. Nachdem er das Feld kräftig abgegrast hatte, ging ihm merkbar der Stoff aus, er begann sich zu wiederholen und wurde langweilig. Ich bin so boshaft, mir ihn vorzustellen, wie er in Filzpantoffeln hinter dem Tisch sitzt und sich an ungeistiger Weißwurscht und einer Maß Bier labt!
Gegen Ende des Schuljahres zeigte es sich, daß die Erweiterung der Anstalt bauliche Maßnahmen erfordern würde, und die weitere Aufstockung wurde für ein Jahr ausgesetzt. Für uns, die Obersekunda, bedeutete das, die Anstalt zu Ostern verlassen zu müssen.
Es gab nur zwei Alternativen: Übertritt, immer noch möglich nach Lichterfelde oder zurück zur Familie.
Auf Fürsprache der Anstaltsleitung und meiner Leistungen in der Schule, wurde ich in einem so späten Stadium in die Unterprima des städtischen Reformrealgymnasiums aufgenommen. Da zeigte sich sogleich, wie vorzüglich der Unterricht bislang gewesen sein muß: ich wurde mit Abstand Klassenbester. Aber es tat sich für mich noch mehr.
Die Anstalt zeigte sich so großherzig, mir in ihrem Bereich Unterkunft zu bieten und mich aus der Anstaltsküche zu beköstigen, für so geringe ermäßigte Kosten wie vorher. Doch bevor ich die Zeit bis zum Abitur näher eingehe, soll noch von einigen besonderen kulturellen Ereignissen die Rede sein, die der Erinnerung wert sind.
Manche Bühne hat während und wegen des Krieges ihren Betrieb einstellen müssen, die Ensembles hatten sich in alle Winde zerstreut. Da nahmen Schauspieler ihr Schicksal in die eigenen Hände und taten sich zu "Wanderbühnen" auf eigene Rechnung zusammen. Sie suchten solche Orte auf, die selbst nie ein Theater besessen hatten und nicht zuletzt, wo es noch genug zu essen gab: So eine "Schaubühne" kam auch für eine Weile nach Naumburg und erregte auch die Aufmerksamkeit der Schulen. Es fand sich ein geeignetes Etablissement mit einem größeren Saal und sogar mit allem Nötigen für eine Bühne. Es mußte aber außerdem sehr viel improvisiert werden, und kleinere und größere Pannen blieben nicht aus. Es muß leider gesagt werden, daß wir Bengels mehr Freude daran hatten, als an dem literarischen Kunstgenuß. Das war sehr unfair gegen die Schauspieler, die mit vielen Mühen und großem Geschick hatten Kulissen, Requisiten und Kostüme selber anfertigen müssen - außerdem boten sie wirklich gutes Theater.
Es wurden mit Vorliebe klassische Stücke aufgeführt, so auch Schiller's "Braut von Messina" (wir ulkten "von Messing"). Am Höhepunkt erdolcht aus Eifersucht der eine Bruder den anderen. Das Ganze spielte sich ab auf einer quer durchlaufenden Estrade, auf die man über zwei Stufen gelangte, die nach hinten halbrund war und durch eine Reihe von Marmor-(Papp-)Säulen abgeschlossen war. Sehr gekonnt stürzte sich das Opfer die Stufen hinab und mit einem solchen Schwung, daß sich die Perücke vom Kopf löste und noch einen guten Meter ‘weiter flog! Nun zeigte es sich , daß in dem Mörder doch noch ein mitfühled Herz wohnte - er sprang hinzu, ergriff den Haarschmuck und setzte ihn dem Bruder liebevoll wieder auf das Haupt (natürlich großer Beifall).
Im "Wilhelm Tell" schießt selbiger den Apfel auf dem Köpfchen seines Sohnes, auch auf großen Bühnen nicht wirklich, mit der Armbrust herunter. Der wird an einem unsichtbaren Faden von hinten herabgezogen und dann ein vorher mit einem Pfeil durchbohrter zweiter zum Vorschein gebracht - dabei kommt es auf richtiges "Timing" an. Das ging in Naumburg leider schief, da machte der Apfel zunächst kräftig "bums" und erst ein ganz schönes Weilchen danach erfolg-te hörbar der Abschuß, es gab keinen zweiten Apfel, und so wurde der Pfeil für alle sichtbar in ihn gesteckt.
In einem anderen Stück wird ein "Streitwagen" benötigt. Den hatte man aus dem Vorderteil eines Leiterwägelchens gebastelt, mit Pappe umkleidet und mit dünnen großen Scheibenrädern versehen. Das Ganze war ziemlich wackelig und diese Räder "eierten" unter dem Gewicht des Helden beängstigend. Feurige "Rosse" hatte man natürlich nicht und sie hatten auf der engen Bühne keinen Platz und so waren es zwei tapfere Krieger, die das Gefährt an der Deichsel hinter sich herzogen.
Ein Höhepunkt war "Sappho - und des Meeres und der Liebe Wellen" von Grillparzer. Zum Schluß muß sich die verzweifelte Dame von einem Felsvor prung (Kisten mit entsprechend angemalter Zeltleinwand überzogen) tief hinunter ins Meer stürzen. Seine Oberfläche war aber bereits der hölzerne und hohle Bühnenboden: irrer Schrei, kühner Absprung und sofort ein gewaltig "Bums", beträchtlich verstärkt durch das Lebendgewicht der Tragödin! Derlei brachte ihnen den Spitznamen "Schau e r bühne" ein.
Diese Erlebnisse haben wohl dabei mitgewirkt, daß bei Lehrern und Schülern der Plan für eine eigene Theateraufführung in der Anstalt aufkam. Die äußeren Voraussetzungen waren dafür gegeben: die große Turnhalle, und alles Nötige für den Bühnenaufbau wie Boden, Prospekt und Vorhang wurden in einem Lagerkeller aufgefunden.
Die Wahl fiel auf ein sehr anspruchsvolles Stück, den "Sommernachtstraum" von Shakespeare mit der romantischen Begleitmusik von Mendelssohn-Bartholdy (mit angemieteten Instrumentalisten). Es war ein unerhörtes Glück, daß ein geradezu genialer Interpret für die tragende Rolle des "Puck" gefunden wurde, der auch uns andere mitriß.
Es wurde ein "Riesenerfolg". Die begeisterten Zeitungsberichte drangen überall hin in die Stadt: die Aufführung mußte für die Schulen, aber auch viele sonstige Interessenten noch zweimal wiederholt werden. (Selbst ich, in meiner Nebenrolle als Oberon und Gemahl der Elfenkönigin Titania, wurde als sehr edel erwähnt.)
Gegen den Winter fand man, daß uns Älteren etwas gesellschaftlicher Schliff gut täte, und es wurde innerhalb der Anstalt "Tanzunterricht' abgehalten, allerdings ohne Weiblichkeit, die Gattin des Lehrers ausgenommen. Der Kursus wurde wie üblich mit einem "Ball" abgeschlossen; dazu wurden die Oberklassen des städtischen Lyzeums eingeladen.
Von meinem dichterischen Ruhm muß etwas nach Außen gedrungen sein, denn die Klassenerste hatte ausdrücklich mich als Tanzpartner auserkoren. Sie war ein
schönes und gescheites Mädchen - vielleicht ein bischen "Blaustrumpf". Ich war damals auch kein leidenschaftlicher Tänzer, und so haben wir beide die meiste Zeit an einem Tischchen gesessen und tiefsinnige Gespräche geführt.
Es war selbstverständliche Kavalierspflicht, daß man seine Dame durch das Dunkel der Nacht nach Hause begleitete. Den ganzen Weg haben wir unsere Unterhaltung weiter geführt und sind auch vor ihrem Wohnsitz noch eine ganze Weile hin und her gegangen.
Sie muß wohl an mir Gefallen gefunden haben, denn über Querverbindungen zwischen unseren Schulen ließ sie mich immer wieder wissen, daß sie mich gern wiedersehen würde , etwa bei einer Tanzveranstaltung - "Stiesel ", der ich damals war, wurde mir das· langsam unheimlich, ich versuchte mich zu drücken und ließ sie endlich ein paarmal sitzen, bis sie aufgab. Weibliche Wesen mit einem leichten Hang zur Kuppelei, hätten spekuliert, was wohl aus uns beiden geworden wäre, wenn ... ich habe mir darüber nie den Kopf zerbrochen.
Ich kehre nun zu dem Realgymnasium mit den letzten Schuljahren und dem "Abi" zurück; jetzt soll etwas mehr auf die Lehrer eingegangen werden. Mein Klassenlehrer, aus vermutbaren Gründen der "alte Zecher" genannt ( ich habe ihn aber in dieser Qualität niemals erlebt), war zugleich unser Sportlehrer. Fern jeder Trockenheit, die dem Lateiner oft anhaftet, thronte er nicht würdevoll auf dem Katheder, sondern stellte seinen Stuhl mitten unter uns und hielt einen lebhaften interessanten Unterricht. Mit dem Haupt eines römischen Senators und von athletischer Figur war er das Idealbild für "mens sana in corpore salvrsano (scherzhaft sagte man gerade zu der Zeit: mens khasana (beliebte Schönheitscreme) in corpore salvarsano (Quecksilbersalbe gegen eine delikate Krankheit). Es gelang ihm 18 von uns 22 zu Reichssport-abzeichen zu führen.
Unser Deutschlehrer war ein Herr Becker, "Abu Becr" geheißen, weil er vorhermehrere Jahre an einer deutschen Schule in Kairo unterrichtet hatte. Er war der schlimmste Banause, der mir je begegnet ist und das in Deutsch und in der Prima. (Anscheinend, so meinten wir, hatte das scharfe Mondlicht bei den Pyramiden geistig geschadet und der heiße Wüstenwind das Hirn ausgetrocknet.)
Ein charakteristisches Beispiel sei hier gegeben. Ein Mitschüler sollte sich über die Zeit Goethes in Leipzig äußern und erwähnte auch die Episode mit Käthchen Schönborn. Sofort kam die giftige Bemerkung: "So, das haben Sie sich natürlich gemerkt, daß der Goethe da wieder rumpoussiert hat!"
Keinesfalls vergessen werden darf unser Original von Mathematiklehrer mit seinemanscheinend einzigen Anzügen, von denen er stets zur schwarzen Jacke die graue Hose - und umgekehrt trug. er hatte einen kahlen Turmschädel und einen langen weißen Vollbart und wurde daher der "alte Petrus" genannt. Aber in Nachahmung seiner gestelzten Sprechweise machten wir daraus "Pättross". ( Das zeigt, daß die "Feuerzangenbowle" mit dem Prof. "Schnauz" nicht übertrieben hat.)
In unserer fortschrittlichen Schule hatten wir in der Prima auch zwei junge Damen, Frl. Richter und Frl. Blume. Das ging dem Petrus gewaltig gegen den Strich und sein deutlicher Protest bestand darin, daß er "Blome" und "Rächter'“ konsequent ohne das "Fräulein" anredete.
Einmal sollte "Blome" etwas über das komplizierte Verfahren für die Lösung kubischer Gleichungen vortragen und erhob sich an ihrem Platz. "Blome", fiel der Petrus ein, "wänn das Weib in die Öffentlächkeit trätt, moß es sich daran gewöhnen, den Männern ins Auge zo bläcken!'' und wies sie mit·einem gebieterischen "bättee!" zum Katheder.
Anfang Oberprima trat unversehens die Schulleitung, da sie ja unsere beengten finanziellen Verhältnisse kannte, mit dem Vorschlag an, wir sollten bei der Schuloberbehörde beantragen, mein Abitur ein halbes Jahr früher ablegen zu dürfen, d.h. schon im Herbst zusammen mit Schülern, die an Ostern vorher nicht bestanden hatten und die Prüfung wiederholen durften - man würde ihn auch lebhaft unterstützen - und tatsächlich, es wurde die Genehmigung erteilt! Allerdings wurden einige Auflagen gemacht. Auch bei besten Noten im Schriftlichen (die ich dann auch erzielte), sollte ich in den Hauptfächern ins Mündliche und das des letzten Halbjahres, das ich versäumen würde.
Nun spielt sich ja in der Oberprima an Neuem nicht mehr viel ab - mit einer Ausnahme in der Physik - in dieser Reihenfolge - der "Optik" und der "Elektrizitätslehre". Nun war unser "Härbchen Jakube-it", aus der "kalten Heimat", Astpre-ißen jebirtig, ein leidenschaftlicher Zigarrenraucher, und so nutzte er es auch weidlich aus, daß es in der Tat für den Strahlengang des Lichtes bei Linsen und Spiegeln im verdunkelten Raum nichts Besseres gibt als dicken Zigarrenqualm. So kam die viel umfangreichere Elektrizitätslehre zeitlich viel zu kurz und war bis zum Herbst noch nicht einmal in Angriff genommen worden.
Nach den Sommerferien fand in Halle ein großes Sportfest für die Schulen des Bezirkes statt, auch unsere Klasse war gemeldet worden (und hat auch Preise eingeheimst). Nichtsahnend kehrten wir an einem Montag Früh in die Klasse zurück, als sie unser Klassenlehrer und der Direx betraten mit der Ankündigung: „Die Abiturienten können nach Hause gehen, morgen beginnt das Schriftliche für je ein Fach bis Samstag - und das Mündliche gleich am Montag darauf - und der Herr Oberschulrat wird höchstpersönlich erscheinen und selber die Prüfung abnehmen (wahrscheinlich auch, um mich seltenen Vogel in Augenschein zu neh-en). Wahrlich eine Überraschung und unklar, ob eine gute oder schlechte. Letzteres insofern, als für die Vorbereitung nur der Sonntag zur Verfügung stand, und den habe ich voll gebraucht. Es war Herbst und ein gutes Jahr für Pflaumen, und so habe ich mir das Pauken durch ihren reichlichen Genuß zu versüßen versucht mit dem Ergebnis, daß mir am Prüfungsmorgen ziemlich mies war, aber mein sprichwörtlicher "Pferdemagen" hat obgesiegt.
Für die Prüfung war in einem größeren Raum eine u-förmige Tafel errichtet worden: in der Mitte für die hohe Prüfungskommission, gegenüber die Prüflinge: links die Fachlehrer und rechts auf einem Tisch sahen mich eine erkleckliche Zahl geheimnisvoller elektrischer Apparate drohend an.
Mit dem Glück, das auch der Tüchtige nötig hat, verlief für mich alles glatt, in Lateinsollte ich ein Kapitel aus dem "Livius" übersetzen, das ich aber, was keiner wußte, schon in der Anstalt gehabt hatte. Um dies zu verbergen, machte ich von der Erlaubnis Gebrauch, seltene Vokabeln zu erfragen (mit Maßen beeinträchtigte das die Note nicht). Ich weiß heute noch, daß es das Wort "cingulum", der Gürtel gewesen ist. In diesem Fach ereignete sich auch lustiges. In der lateinischenSatzlehre gibt es den ''ablativus absolutus'', eine Partizipialkonstruktion als Stilmittel zur Satzverkürzung. Eine Schwierigkeit dabei ist, daß der Sinn nicht ohne weiteres erkennbar ist, sondern sich aus dem Zusammenhang ergibt. Es hätte heißen sollen: "Bei Sonnenuntergang trat der Senator auf das Forum und verkündete, daß die Schlacht geschlagen sei". Übersetzt aber wurde: "Als die Schlacht geschlagen war ... verkündete er, die Sonne sei untergegangen'' - eine sensationelle Nachricht! Bei "Cäsar" wurde berichtet, nach einer blutigen Niederlage hätten verzweifelte Germaninnen als Ausdruck tiefer Trauer mit ihren Haaren die Altäre g e f e g t . Übersetzt aber ist: "fegten ü b e r die Altäre", was unseren alten Zecher zu der trockenen Bemerkung veranlaßte: ''Muß aber hübsch ausgesehen haben!"
In englischer Literaturgeschichte sollte ich über das Leben des großen Lyrikers Robert Burns berichten und legte auch flott los: " ... was born in Edinborogh (so schrieb man diese Stadt damals noch) and ... " und hätte die Jahreszahl und einiges mehr folgen sollen, aber da war bei mir plötzlich der Ofen aus und totale Sendepause. Just in diesem Augenblick sah der Oberschulrat, der wohl etwas geistesabwesend gewesen war , auf und sagte: "Danke, das genügt!" In Mathematikkamen ausgerechnet jene "kubischen Gleichungen" dran, derentwegen "Blome" hatte das Katheder erklettern müssen. Die hatte ich mir schon so an den Fußsohlen abgelaufen, daß ich alles nur so herunterschnurren konnte. Auch in Religion wurde ich geprüft - auf eine "1" und erhielt sie auch. Der Schulrat hatte sich auf einen längeren Disput über ein mehr philosophisches Thema eingelassen, und ihm hat wohl die Hartnäckigkeit gefallen, mit der ich für meinen Standpunkt eintrat.
Plötzlich wurde die Prüfung unterbrochen und die Kommission zog sich zur Beratung zurück. Einer von uns legte die Prüfung zum zweitenmal ab und war immer aufgeregter, weil es nicht gut um ihn stand. Er war der Sohn einer Witwe in bescheidenen Lebensumständen, die ihm den Besuch einer höheren Schule nur mit Mühe und unter Entbehrungen hatte ermöglichen können. Wenn er nochmals scheiterte und nach den damaligen Bestimmungen das Gymnasium hätte endgültig verlassen müssen, wäre das für beide eine wirkliche Katastrophe gewesen. So wurde ernstlich befürchtet, dieser sehr sensible junge Mann könnte sich etwas antun. Zu seinem Glück und unserer Erleichterung wurde entschieden ihn noch gerade eben durchkommen zu lassen.
Diese Unterbrechung hatte wohl zuviel Zeit gekostet. In den Raum zurückgekehrt entschuldigte sich der Oberschulrat, leider müßte er sofort zu einer dringenden Sitzung des Provinzialschulkollegiums, dem er vorstand, nach Halle zurückkehren und die Prüfung beenden: heureka! ihr lieben elektrischen Apparate auf dem Tisch.
Noch in der Nacht des gleichen Tages fand mit unseren Lehrern und zum Abschied von einigen Kameraden, die erst nächste Ostern an der Reihe waren, eine zünftige Abiturienten-"Kneipe" statt, höchst romantisch in einem sehr gastlich wieder aufgebauten Raum in der Ruine der "Rudelsburg" ("An der Saale hellem Strande ... "). Unser sonst so steifer "Pättross" entpuppte sich als fröhlicher und trinkfester Kumpan. Am nächsten Morgen, gleich in der ersten Stunde, soll er noch leicht verkatert die Klasse mit den düsteren Worten betreten haben: "Meine Damen ( sic ! ! ) und Herren, vergässen wär die Vergangenheit ond begännen wär ein neues Läben!")
Ich fuhr nun umgehend nach Eisenach, um dort die Glückwünsche der Meinen entgegenzunehmen und mit ihnen tüchtig zu feiern. Meine Großmutter, die immer zu Scherzen aufgelegt war, hatte mir einen frischen Lorbeerkranz gewunden und auf meinen Teller gelegt, getragen habe ich ihn nur an diesem Tag. Verwelken hat er aber nicht müssen, sondern ist blattweise für Braten und Soßen aufgebaucht worden,
Nun mußte für meine Zukunft ein endgültiger Beschluß gefaßt werden. Daß ich studieren sollte, war eine Selbstverständlichkeit, daß es "Germanistik" sein würde mit Deutsch, Geschichte und Philosophie war ziemlich sicher.
Inzwischen war es Anfang der 20er Jahre mit rasanter Inflation, abertausenden von Arbeitslosen und miserablen Berufaussichten. Ein väterlicher Freund in Naumburg, Rechtsanwalt und Notar beim Oberlandesgericht und daher von nüchterner Denkart, stellte mir vor, daß "Privatdozent." ein Hungerberuf sein würde, zum Leben zuwenig und zum Sterben zuviel. Ob ich mich nicht mit einem technischen Beruf und besseren Aussichten befreunden könnte? Von meiner recht umfassenden Begabung her sprach nichts dagegen: auch Naturwissenschaftliches, auch Mathematik waren für mich interessant. Sozusagen über Nacht entschied ich mich für die Technische Hochschule, - und ich habe es nie bereut. So bewahrheitete sich doch noch meine frühkindliche Prophezeihung "elektrischer Techniker"!
Als Studienort kamen, weil dem zu Hause am nächsten; nur Berlin oder Dresden in Betracht; in der seelenlosen Millionenstadt für Jahre begraben zu sein, schreckte mich zutiefst. Auf der anderen Seite kannte ich in Naumburg einen älteren ehemaligen Mitschüler, der selber in Dresden studierte und über die Hochschule und die schöne Stadt des Lobes voll war. Da gerade das Wintersemester begann (1922) fuhr ich mit ihm, wurde auf Grund meines guten Abiturs anstandslos angenommen (erhielt sogar bei den Studiengebühren Ermäßigungen) und ließ mich für das Studium der "Elektrotechnik" immatrikulieren.
6D R E S D E N (Technische Hochschule)
Unter den Technischen Hochschulen ist meine Wahl auf Dresden gefallen. Wenn man von Berlin absieht, war es meinem Zuhause am nächsten gelegen und für mich anziehender, als eine Riesenstadt. Hinzu kam, daß ein älterer ehemaliger Mitschüler bereits dort studierte und sich mir sehr hilfsbereit zeigte.
Da gerade das Wintersemester begann, fuhr ich zur Immatrikulation mit und wurde bei meinem guten Reifezeugnis sofort angenommen. Nur mit dem eigentlichen Studieren begann es noch nicht gleich. Voraussetzung dazu war nämlich eine insgesamt einjährige Zeit als “Praktikant” in der Industrie; die erste Hälfte davon mußte in einem Zug abgeleistet werden, der Rest in Etappen während der Semesterferien.
Wieder durch Beziehungen erhielt ich einen Platz in Naumburg selbst in einer mittelgroßen Maschinenfabrik, die im wesentlichen Milchzentrifugen herstellte. Meine Tätigkeit umfaßte nicht nur Ausbildung in den meisten mechanischen Arbeiten, man wurde auch mit der Zeit in den Herstellungsprozess einbezogen; das machte die Sache abwechslungsreich und kurzweilig.
Man hätte meinen können, daß mein Name und Stand mir bei der vorwiegend kommunistischen Belegschaft hätte Schwierigkeiten bereiten können, aber zu ihren Ehren muß gesagt werden, daß man mir sehr stets freundlich und hilfsbereit entgegengekommen ist.
Nach Ende des ersten Halbjahres zu Beginn des Sommersemesters übersiedelte ich nach Dresden in eine richtige Studenten-”Bude”, die mir mein freundlicher Bekannter besorgt hatte. Leider war es nur ein schlecht möbliertes Hinterzimmer mit einem ebenso unfreundlichen Blick in einen Hinterhof wie seinerzeit in Mannheim. Ein Vorteil der Behausung war, daß sie billig und nur einen Katzensprung zur (alten) Hochschule, in der ich in der ersten Zeit zumeist zu tun hatte.
Hier soll nun erst einmal etwas über das Ingenieurstudium an sich gesagt werden. Es setzte sich aus zwei Hauptstufen von gewöhnlich 4 Semestern zusammen: die erste enthielt die für alle Ingenieure gemeinsamen Grundlagenfächer, die man als “stud.ing.” durchlief und mit der “Vorprüfung” abschloß.
Von da an spezialisierte man sich auf sein Hauptfach, in meinem Fall die “Elektrotechnik” als “cand.ing.” mit der Diplom-Arbeit und Diplomhauptprüfung als Abschluß. Rechnet man die Praktikantenzeit hinzu, so dauerte ein solches Studium runde 10 Semester.
In der “alten” Hochschule lagen nicht nur die klassischen Disziplinen Mathematik, Physik und Chemie, sondern auch Allgemein- und Grundlagenfächer, die für alle Ingenieure gemeinsam waren, z.B. Technisches Zeichnen, Kinematik (Bewegungslehre), Materialkunde, aber auch Volkswirtschaftslehre und Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und schließlich Patentrecht. Mit der zunehmenden Erweiterung zur Technik hin, für die kein Platz mehr war, entstanden oberhalb auf der südlichen Anhöhe Zug um Zug die modernen Institute für Elektrotechnik, Maschinenbau usw. So kam es, daß man mit der Zeit immer mehr und schließlich fast ganz nach “oben” überwechselte. Von meiner Wohnung aus war es zu beiden Hochschulanlagen und zwischen ihnen nur ein Weg von einer guten Viertelstunde.
Für mich hatte ein guter Geist, an dem es mir nie gefehlt hat, eine weitaus bessere Unterkunft ausfindig gemacht: ein großes und gutmöbliertes Eckzimmer der Straße zu im Hochparterre eines mehrstöckigen modernen Wohnhauses bei der schon etwas betagten Witwe eines Pfarrers und daher, wie bei Protestanten üblich “Frau Pfarrer” angeredet, obwohl sie eigentlich auf diesen Titel keinen Anspruch hatte.
Trotz ihres vorgerückten Alters beherbergte sie zuweilen bis zu 3 Studenten gleichzeitig. Sie war eine jener zart wirkenden Frauen, die man meint umpusten zu können, aber unglaublich zäh sind. In ihrem Zimmer hing ein Bild ihres verstorbenen Gatten, ein recht streng blickender Martin Luther - “hier stehe ich und kann nicht anders”. Offensichtlich ist sie von ihm stark dominiert worden, aber danach ist sie richtig “aufgeblüht”.
“Nr. 20” war ein Eckhaus mit seiner Hauptfront an der “Liebig-Straße”, die mit klassizistischen Villen in gepflegten Gärten aus der Frühzeit der Stadt zum Bahnhof hinunterführte, auf der anderen Seite in den “Nürnberger Platz” mündete, seiner Form wegen “Nürnberger Ei” genannt, wieder einheitlich von mehrstöckigen Stadthäusern umstanden. Dort verkehrte (für mich sehr bequem) die Straßenbahnlinie Nr. 11 in Richtung Hauptbahnhof durch den wichtigsten Teil der Altstadt bis zu der weltberühmten “Brühlsehen Terrasse” über die “Augustus- Brücke” nach “Neustadt”.
An die Liebigstraße selbst habe ich manche freundliche Erinnerungen. Ein späten Abends kam ich vom Bahnhof nach Hause, als aus einer der schönen Villen aus weitgeöffneten Fenstern Klaviermusik ertönte: die “Mondscheinsonate” von Beethoven! Dazu die laue Sommernacht, der Blumenduft aus den Gärten - höchst romantisch - ich konnte nicht anders, als stehen bleiben und bis zur letzten Note verzückt zu lauschen.
Von einer anderen Villa wurde erzählt, der dort wohnende Hochschulprofessor habe einmal Kollegen als Mittagsgäste gehabt, und nach dem Essen sei man hinaus in den Garten gegangen. An ihrem Wege hätten hochstämmige Rosen gestanden, und die waren an Stöcke gebunden und auf diesen, wie damals beliebt, bunt verspiegelte Glaskugeln gesteckt gewesen. “Meine Herren”, sagte der Gastgeber, “hier möchte ich Sie auf ein naturwissenschaftliches Rätsel aufmerksam machen: hier diese Kugel steht im Schatten, ist aber ganz warm, jene aber in der prallen Sonne, ist aber ganz kalt - haben Sie eine Erklärung dafür?” Nach einigen höchstwissenschaftlichen Erörterungen schmunzelte der Professor: “Die Lösung ist ganz einfach: kurz bevor wir in den Garten gingen, habe ich die beiden Kugeln durch meinen Diener austauschen lassen!”
Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich es in der sächsischen Sprache zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht habe, wie mir meine gute Wirtin ausdrücklich bestätigt hat im Sinne jenes stolzen Ausspruches: “Een Gligg, daß mir Sachsen geen Dialegd harn!” Wenn ich bei meinem Onkel in Stettin in den Ferien zu Besuch war, mußte ich unentwegt sächsische Witze und Anekdoten erzählen. und man amüsierte sich köstlich (entgegen einem angeblichen “Tagesbefehls” des NS-Gauleiters M.: “Die sächsische Sprache ist nicht goomisch !”) . Namentlich meine kleine Kusine mühte sich redlich mich nachzuahmen, für ein norddeutsches Mundwerk ein hoffnungsloses Unterfangen hatte ich gemeint. Das Mädchen heiratete einen Fabrikanten aus Chemnitz; eines Tages besuchte uns das Paar in Berlin - und mich traf fast der Schlag: sie sächselte unüberhörbar! Von Eisenach in Westthüringen über Naumburg in der Provinz Sachsen habe ich mich zielstrebig Dresden genähert, der Hochburg des “klassischen” Sächsisch, bei dem nicht mehr die harten und weichen Konsonanten verwechselt werden, sondern es nur “weeche” gibt.
“Kaffee” ist für Sachsen nun einmal ein Reizwort, weil sie jedermann wegen ihres “Bliemchengaffees” verulkt: der sei so dünn, daß man das Blümchen auf dem Tassenboden durchsehn könne (erst recht der “Doppel”-B1iemchen, bei dem sogar das auf der Untertasse noch durchscheine). Nach meiner Erfahrung ist das eine schändliche Verleumdung; ich habe ihn nicht schlechter gefunden als anderswo (der im Hauptbahnhof von Leipzig wurde früher besonders gelobt, was man auch dem guten Wasser zuschreibt). Einmal soll ein Spötter eine schwere Abfuhr erhalten haben. An einem Tischchen saßen ein Sachse und ein Berliner, als der plötzlich ein Notizbuch aus der Tasche zog und ein paar Tropfen hineinfallen ließ. Erstaunt fragte ihn der Sachse: “Tschuldichense, Herr Nachbar, das inderessierd mich nu, warum machense denn das?” - “ick will den ze- hause ma zeijn, watt forn Kaffee et bei Euch jiebt.” - “Ach so is das, denn nehmse ooch so'n Milchgännichen mid - so gleene Schnauzn gibs in gans Berlin nich!!”
Nun hätte es mit dem Studieren eigentlich losgehen sollen, aber die Sterne standen nicht günstig, denn im Jahr 1923 nahm die Geldentwertung astronomische Ausmaße an. Z.B. kostete eines Tages eine Schachtel Streichhölzer 13 Milliarden Reichsmark und endlich im Herbst wurde sie als Rentenmark im Verhältnis 1 : 1 Billion (= 1 000 000 000 000) “stabilisiert”.
Meine Großmutter erhielt für ihre Pension und mein Waisengeld alle paar Tage Nachzahlungen, aber sie mußten schleunigst ausgegeben werden, sonst waren sie nicht einmal das Papier wert. Die Städte druckten immer neues eigenes Papiergeld, manchmal wenigstens hübsch anzusehen, einige gaben sogar braune Porzellanmünzen heraus mit Aufdrucken in Tausender und Millionenhöhe.
Hier muß des verzweifelten Kampfes meiner Großtante mit ihrem minituös geführten Haushaltsbuches gedacht werden. Sie hatte treu und brav einzelne Pfennige mitgeschleppt, und wenn ihre Schwester ihr Großzügigkeit empfahl, schluchzte sie: “Aber das muß doch stimmen!” Eines Tages raffte sie sich doch auf und strich alles längst Überholte fort - und fühlte sich dabei äußerst verrucht.
Eine Reise mußte sorgfältig geplant und vorbereitet werden, indem man die weitere Entwertung abzuschätzen versuchen mußte. Behufs dessen wurde täglich an den Schaltern der “Index” (Umrechnungsfaktor) ausgehängt. Einmal hatte ich das Pech, mich zu verschätzen und stellte auf dem Bahnhof fest, daß ich etwas zu wenig Geld hatte. Plötzlich drängte sich ein Herr vor, verlangte eine Karte, warf einen Packen Scheine hin und rannte davon. “He”, rief ihm der Beamte nach, “se kriegen noch Geld raus”, aber der war schon über alle Berge. “Geschengd nehmen wer hier ooch nischt” - und zu mir - “hier hamse Ihr Billed, junger Mann!”
Noch vor Ende des Semesters ging mir die Luft aus, und ich folgte der Einladung des Vaters jenes Kameraden, der mit mir in Naumburg geblieben war, auf sein Gut in Niederschlesien. Dann fuhr ich nach Eisenach zurück, um dort in einem Betrieb praktisch zu arbeiten. Man besorgte mir eine Stelle bei den “Dixi-Werken”, die hauptsächlich Fahrräder herstellen (später auch einen Kleinwagen, heutzutage mit dem Namen “Wartburg”). Ich hatte “Fahrradkurbeln” zu fräsen, paarweise und gleichzeitig an zwei gleichartigen Maschinen und zwar im “Akkord”: mit einer festen Mindestmenge. Man mußte versuchen, diese zu übertreffen und damit mehr zu verdienen. Es wurde in 3 Schichten zu je 8 Stunden gearbeitet. Zur Freude der Kollegen, mit denen ich mich ablöste, wählte ich die Nachtschicht von 10 Uhr abends bis 4 Uhr morgens. So hatte ich nach ausreichendem Schlaf eigentlich fast den ganzen Sommertag für mich frei. Als letzten Wochenlohn zahlte man mir die gewaltige Summe von 500 Millionen aus - und das reichte genau für die Fahrkarte zurück nach Dresden ...
Vom eigentlichen “Studium” ist bisher kaum die Rede gewesen: ich möchte dabei garnicht ins Einzelne gehen und mich auch nicht mit unseren Professoren befassen - mit einer Ausnahme wegen “besonderer Vorkommnisse”. Zu den allgemeinen Fächern gehörten ja auch zwei Semester “BGB” (Bürgerliches Gesetzbuch); zur Prüfung hatte ich mich im Rahmen der “Abschließenden” gemeldet am Beginn des Winterhaibjahres. Ich war erst am zweiten Tag nach Dresden zurückgekommen und eilte wegen der Termine an das “schwarze Brett” - oh Schreck: die Prüfung war tückischerweise auf den Nachmittag des allerersten Tages gelegt worden, so hatte ich sie verpaßt - und galt damit als “durchgefallen”. Ich konnte mich erst zum Ende des Semesters neu anmelden und hätte damit ein ganzes verloren - aber es gab einen Ausweg. Man konnte das Fach “Patentrecht” hinzunehmen (“zur Vertiefung”, wie das hieß) und die Prüfung insgesamt bis zum Hauptexamen verschieben, und das tat ich wohl oder übel.
Der Professor war, was korrekten Anzug anbelangt, nicht nur bei sich sehr penibel: “Jeans” und “Rollkragenpulli” hätte jeden Kandidaten sofort durchfallen lassen. Ferner hatte er es sehr mit der klassischen Bildung zu tun: konnte man - wie ich - möglichst reichlich mit lateinischen Zitaten aufwar- ten, so war das ein wichtiger Pluspunkt, auch konnte ich mit einem eleganten “Cut” aufwarten mit Schwalbenschwanz, gestreifte Hose, zartgraugrüner Weste, Stehumlegkragen mit schwarzer “Fliege” und schwarzen Lackpumps. (Den Cut hatte ich mir eines Tages nach Verkauf meiner bescheidenen Briefmarkensammlung für 2,5 Millionen geleistet.)
Schon die allererste Frage war ein “Schock”: “Warum legen Sie die Prüfung erst jetzt ab?” Eins war mir klar, wenn ich jetzt etwas von “Vertiefung” murmelte, wäre ich in meine Bestandteile zerlegt worden - also versuchte ich es mit der Wahrheit (ein Mittel, das sich oft durchaus bewährt, weil es entwaffnet) und gestand aufrichtig, wie es mir mit der versäumten Prüfung beim Vorexamen gegangen war. Das schien tatsächlich gefallen zu haben. Aber dann kam eine weitere Klippe: “Was steht auf Seite dreihundertsound- soviel des BGB?” Da versuchte ich es mit Diplomatie: “Genau kann ich es nicht sagen, aber es steht im Sachenrecht” -und auch das kam an.
Ich hatte einen Mitprüfling, einen Deutschrumänen. Der wußte unheimlich viel, tat sich aber mit seinem Deutsch schwer - und das machte ich mir zunutze. Nach jeder seiner Antworten griff ich einfach ein und verdolmetschte ihn ins Hochdeutsche, damit kam ich nicht nur um direkte Fragen an mich herum, sondern erweckte den Eindruck, als wisse ich alles ebenso gut. Dies Spiel lief eine gute halbe Stunde, als der Professor, sichtlich besserer Laune, meinte: “Ich muß Ihnen gestehen, meine Herren, daß ich zu Beginn äußerst skeptisch war - aber Sie haben mich aufs angenehmste enttäuscht!” Dann kamen nur noch einige ganz einfache Fragen aus dem Patentrecht, und wir wurden in Gnaden entlassen. Frech geworden fragten wir nach der Prüfungsnote, die aber erst am schwarzen Brett bekanntgegeben wird, aber er meinte doch: “Sie werden zufrieden sein” - wir hatten eine hübsche “1 b” bekommen!
Schon einige Jahre vor und auch noch etwas nach meiner Zeit gab es unter den “Studenten” ein einmaliges “Unikum” - den “alten Hermann”. Das war ein pensionierter Volksschullehrer, der in seiner Jugend liebend gern hätte studieren wollen. Als er dann doch zu etwas Geld gekommen war, besuchte er die TH und belegte jedes Semester immer wieder die gleichen Fächer - in denen etwas “los war”: Experimentalphysik, Experimentalchemie und das Starkstrompraktikum. Alle mochten ihn gern und niemandem wäre es eingefallen, ihn zu hänseln oder gar zu verspotten. Die praktischen Übungen wurden nachmittags in einer großen glasüberdachten Halle inmitten des Institutes abgehalten. Dort waren auf dicken Betonsockeln die verschiedensten Maschinen und Apparate betriebsfähig aufgestellt. Neben jedem stand ein Tisch darauf ein Winkeleisengestel, in das man auf Holzplatten montiert die jeweils für den betreffenden Versuch benötigten Meßinstrumente usw. einschob und alles mit fliegenden Leitungen verband. Nachher mußte über die Versuche ein “Protokoll” angefertigt werden, das dann benotet wurde. Es wurden einzelne Gruppen gewöhnlich zu sechst gebildet - und zu meiner gehörte eine zeitlang auch der “alte Hermann”. Er stand meist nur dabei, die Arme auf der Brust gekreuzt und beobachtete alles sehr genau, ohne sich dazu zu äußern (von ihm erwartete man keine Versuchsbeschreibung). Eines Tages aber sagte er am Schluß: “Endschuldchen Se, Herr Assisdend - wo fließt hier nun eichendlich der elegdrische Schdrom?” Auch die Dozenten hatten ihren Spaß an dem alten Herrn, und so konnte es sich unser an sich sonst sehr seriöser Chemieprofessor zuweilen nicht verkneifen, es einmal tüchtig “knallen” zu lassen. Der alte Hermann setzte sich stets in die Kitte der untersten Sitzreihe, um alles richtig mitzukriegen - und schlief prompt nach 5 Minuten ein. Nach einem Knall fuhr er steil in die Höhe, durch ein frenetisches Trampeln des Auditoriums geehrt, blickte sich etwas verwirrt um - und schlief weiter.
Und dann kam der Tag, an dem mein Studium mit einem “Colloquium” über meine Diplomarbeit endete, an dem nur mein Diplom-Vater und ein Koreferent teilnahmen. Das Ganze lief sehr formlos ab: wir saßen in einem Konferenzraum an einer sehr langen und breiten Tafel. Da ich aber zu meiner Arbeit Erklärungen abgeben sollte, mußte ich auch hineinblicken können und rutschte einfach bäuchlings über die Tischplatte näher. Alles lief unfeierlich, aber sehr glatt ab - und da war ich nun “elektrischer Techniker”, so wie ich es als kleines Kind vorausgesagt hatte, sogar ein “diplomierter”! Kurz hatte ich daran gedacht, noch den “Dr.Ing.” anzuschließen, aber es erwies sich als notwendig, sofort in den Beruf zu gehen.
An Vereinsamung brauchte ich dennoch nicht zu leiden. Zunächst freundete ich mich sehr bald mit zwei gleichaltrigen Mitstudenten an; nur den einen will ich der Kuriosität wegen hier nennen: “Vulpius”: Nachkomme jener Familie in Weimar, der nicht nur Goethes Gattin “Christiane” entstammte, sondern auch ein unrühmlicher Bruder, der es seinem Schwager mit einer Räuberpistole “Rinaldo Rinaldini” dichterisch nachzutun versuchte, im Übrigen flott lebte und Schulden machte und dem Herrn Geheimrat viel Ärger bereitete. Mein “Vulpius” hingegen war ein sehr tüchtiger und zielstrebiger Mensch - in allen Dingen, wofür folgendes Beispiel stehen möge. Als sich bei ihm die Haare zu lichten begannen, griff er zu einem radikalen Mittel: jede Woche und für ein volles Jahr rasierte er sich den Kopf ohne Rücksicht auf das Aussehen, und das hat tatsächlich radikal geholfen: zum Schluß war der Schopf so dicht geworden, daß dann fast die Zinken des Kammes abbrachen!
Meines Wissens ist das tatsächlich das einzige wirksame Mittel, früh genug und konsequent angewandt.
Auch bei mir, wohl als Erbteil von meinem Vater, begann der Haarausfall; ich beschränkte mich allerdings auf irgendwelche Mittelchen, die mir in schlechter Erinnerung sind. Das eine war eine ölige grünliche Suppe, die man schlucken mußte und scheußlich schmeckte. Sie tat auch Wirkung - nur leider dort, wo - oft nicht erwünscht - bereits starkes Haar wuchs, nicht aber an schütteren und kahlen Stellen. Deshalb ging ich vom “Humagsolan” auf “Silvikrin” über. Dies war ein klebriges übelriechendes Eipräparat und mußte mittels einer Pipette aufgebracht werden, eine unappetitliche Angelegenheit; da es überhaupt nichts nützte, gab ich die Sache endgültig auf mit dem bekannten Trost: besser 'ne Glatze als gar keine Haare! 1
Meine beiden Freunde hatten ihr Abitur an der Chemnitzer “Gewerbeakademie” gemacht und das war eine wohl einmalige Kombination zwischen einem Realgymnasium und einer technischen Fachschule. Die Absolventen hatten den großen Vorteil, daß ihnen einiges beim Übergang an die Hochschule in Dresden angerechnet wurde und sie damit beim Studium erheblich Zeit einsparten. Sogar ich hatte davon den Nutzen, mich ihrer größeren Erfahrung bedienen zu können. Wir unternahmen viel gemeinsam (Tennis, Schwimmen, Faustball) auf einem Pkatz im Hochschulgelände, auf dem sich für unseren kostenlosen Gebrauch der Tennisplatz befand.
Es gab zwar in einem schönen Studentenhaus eine gut geführte “Mensa”; aber im Sommer verzichteten wir lieber auf warmes Essen und gingen in eine Kantine neben dem Sportplatz, in den “grünen Dom”, so genannt nach einem “Kugelhaus” in der Gartenausstellung, aber nur eine einfache grüne Baracke, in der man billigen, aber ausgezeichneten Kuchen und Kaffee bekam. (Dort gab es übrigens auch einen Umkleideraum, Sportgeräte und Duschen.) Hier verbrachten wir dann die zwei Stunden zwischen den Vorlesungen, anfangs noch in der alten Hochschule und den Labors und Übungen in den Instituten. Jedesmal wurde ein zünftiger “Skat” gespielt - schließlich ist ja Sachsen das Mutterland und für mich die Wurzel dieses geselligen und beliebten Spiels mit allen Finessen. Einer von uns trug stets ein “Schach” in seiner Büchertasche, und damit wurde öfter eine Schlacht geschlagen.
Außerdem nahm ich an einer “Gymnastikgruppe” teil; es handelte sich speziell um “Box-Gymnastik”, d.h. war besonders intensiv, weil sie auf die 3 Minuten einer Boxrunde abgestellt war. Ins Leben gerufen und geführt wurde sie von einem Chemiestudenten mit einem Körper wie ein griechischer Gott. Richtig geboxt wurde aber nicht. Im Dachgeschoß des Studentenhauses war sehr großzügig eine Übungsstätte von der Hochschule eingerichtet worden mit allem erforderlichen Gerät. Wir hatten sogar einen Masseur in Gestalt des Hausmeisters, der uns mit seinen - wie wir sagten - Klosettdeckelhänden - zum Schluß tüchtig durchwalkte; nach dem Duschen fühlte man sich wie neu geboren! Die Stunden fanden einmal in der Woche statt, außerdem für eine Gruppe eine tägliche Morgengymnastik (wenn irgend angängig sogar im Winter im Freien). Damit komme ich auf eine Teilnahme an gesellschaftlichem Leben zu sprechen.
Unserer Gymnastikgruppe gehörte auch ein noch sehr jugendlicher pensionierter Offizier an. Mehr zum Zeitvertreib studierte er Volkswissenschaft. Er lebte bei einem befreundeten Fabrikantenehepaar aus Thüringen, die im Winterhalbjahr eine hochherrschaftliche Wohnung im Obergeschoß eines Hauses innehatten mit Rücksicht auf die Dame des Hauses und ihre Teilnahme an gesellschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen, an denen diese Jahreszeit besonders reich war.
Der “Major” lebte ganz seinen Neigungen, war hochgebildet und vor allem sehr musikalisch, er besaß noch zu meiner Zeit eine sehr schöne Baritonstimme (in jüngeren Jahren muß sie so gut gewesen sein, daß er - so hieß es - in Berlin am kaiserlichen Hof hat Vorsingen dürfen). Er spielte vorzüglich Klavier und begleitete die Dame des Hauses, die selbst eine sehr schöne Sopranstimme hatte. Er hatte an mir Gefallen gefunden, und so wurde ich oft zu Tisch und zu abendlichen Gesellschaften eingeladen, die stets der Musik gewidmet waren.
Eines Tages waren seine Freunde verreist, und er hütete allein das Haus, als er mich für den Abend zu sich einlud. Ich kam darauf zu sprechen, wie mein Vater im Juli 1914 gerade noch aus Paris entkommen war, da rief er aus: “die Geschichte habe ich schon einmal gehört, ich muß ihren Herrn Vater kennen!” er war selber Fliegeroffizier gewesen, aber aufgrund höherer Beziehungen meist für diplomatische Aufgaben eingesetzt. Als sein Vater in Gotha verstarb, war er auf einige Tage zurückgekommen und benutzte die Gelegenheit, dem dortigen Fliegerhorst einen Besuch abzustatten. Dorthin war mein Vater gerade zur Ausbildung als Pilot kommandiert worden und zufällig dienstältester Offizier. Die beiden verstanden sich sofort, und so lud ihn mein Vater zum Abend in sein Quartier in einem Nachbardorf ein. Dort gab es auch ein Klavier - und dann haben die beiden die halbe Nacht miteinander musiziert.
Durch meinen Weggang von Dresden nach Berlin ist die Verbindung mit der Zeit abgerissen - dennoch bin ich ihm noch einmal begegnet. Dicht bei unserer Wohnung stürmte bei Regen und Wind ein Herr bei uns vorbei, blieb plötzlich stehen und kam auf uns zu: es war mein “Major”. Er hat uns dann einige male besucht, war aber viel in höherem Auftrag, zum Stab “Canaris” im OKH gehörend, im Ausland unterwegs. Das tragische Schicksal des Admirals und seiner Offiziere im Zusammenhang mit dem 20. Juli ist ja hinreichend bekannt. Es scheint, daß auch der Major da hinein verwickelt war: angeblich ist er eines Tages in der Badewanne einem Herzschlag erlegen. Da er meines Wissens kerngesund war, muß er sich der drohenden Verfolgung durch die “Gestapo” durch den Freitod entzogen haben.
Weitere - billige, weil für uns verbilligte - Unterhaltung bot das “Kino”. Noch ganz in seinen Anfängen hatte ich es schon sehr viel früher bei einem Aufenthalt in Berlin kennengelernt. So ein “Cinematograph”, schlicht “Kinntop” genannt, wurde aus einem ehemaligen Ladengeschäft, nach hinten zu einem Schlauch erweitert, eingerichtet. Es war ja noch Stummfilmzeit, so gab es manchmal einen “Erklärer”, aber immer einen “Klavierspieler”, der die richtige heitere, tragische Stimmung vermittelte und Wind- und Wellenrauschen, aber auch Pferdegetrampel, Geschütz- und Gewitterdonner akustisch untermalte.
Die Bildfrequenz war damals noch viel geringer als heutzutage, und so bewegten sich die Schauspieler nur ruckartig und mußten den Ton durch übertriebene Mimik ersetzen, aber das tat der Freude keinen Abbruch. Es gab auch schon “Trickfilme”: in einem hatte jemand ein Zauberpulver erfunden; wenn er Dinge und Personen damit bestreute, so konnte er sie “bröckchensweise” zum Verschwinden und mit einem Gegenmittel wieder zum Vorschein bringen - das war manchmal ganz lustig. Selbst für den “Farbfilm” gab es schon Ansätze, indem die Streifen passend eingefärbt wurden: grün für Natur, hellblau für Wasser, dunkelblau für Nacht und - natürlich rot für Feuersbrünste.
Inzwischen hatte sich das Kino in größeren Städten zu Film-”Palästen” entwickelt und statt des einsamen Klavierspielers (in Mexiko angeblich mit einem großen Plakat über dem Instrument: Es wird gebeten, nicht auf den Klavierspieler zu schießen - der Mann tut sein Bestes!”) hatte man ein kleines Orchester. Gleichgeblieben war aber die Kraft der “Illusion”. Es lief ein Film “Schloß Vogelöd” mit zugehöriger wunderschöner junger Herrin, versteht sich. In einer Szene schreitet sie nur mit einem Umhang bekleidet zum Schloßteich hinab, offensichtlich um ein Bad zu nehmen. Während sie sich dem Ufer nähert, sieht man, ihr mit dem Blick folgend, wie ihr Mantel ganz langsam abwärts gleitet. Gleichzeitig wächst von unten eine schwarze Fläche hoch - der Sittlichkeit zuliebe. Für einige Zuschauer wirkt sie als Mauer - und in den vordersten Reihen erheben sich an die 20 Leute, um schnell noch einen neugierigen Blick zu riskieren. Bei den Nüchternen hat das ein schallendes Gelächter ausgelöst.
Auch im Hause selbst hatte ich menschliche “Ansprache” in Gestalt von zwei alten Damen, auf die ich ja sowieso eingeschworen war und die ich zu nehmen wußte. Da war als erste meine freundliche Wirtin, die immer zu einem Schwatz zu haben war und die ich gern ein bisschen neckte. So kam ich eines Morgens in die Küche, wo sie gerade Wasser für meinen Kaffee kochte und sagte zu ihr: “Nun, vergessen sie ja nicht einen Löffel Salz hineinzutun, damit es nicht zusammenläuft” Darauf meinte sie: “Nee, nee der Herr von Hienerbein, der machd doch immer seine Schbäßchen!”
Im ersten Stock nach dem Platz zu in einer sehr schönen Wohnung lebte eine etwas jüngere Verwandte (familiär “Goldi”-genannt) mit den schönsten schneeweißen Haaren und ebenmäßigen Zähnen, die ich je gesehen habe. Sie mochte mich und hatte es gern, wenn ich ab und an zu einem gemütlichen Plausch zu ihr hinaufstieg. Auch stand im Salon ein schöner Flügel, auf dem ich mich betätigen durfte. Bei ihr wurde auch für mich der Grundstein zu meiner Vorliebe für Kanarienvögel gelegt. Es war die Zeit der Radiobastelei, und ich hatte ihr ein kleines Gerät mit Kopfhörerempfang gebastelt. Nun war es sehr niedlich, wenn der kleine Piepmatz auf den Tisch geflogen kam, sich neben die Hörmuschel des eingeschalteten Gerätes setzte und mit schiefgehaltenem Köpfchen andächtig den zarten Tönen daraus lauschte. Gelegentlich hatte sie Besuch von der Familie ihres Schwiegersohnes und dessen zwei fast erwachsenen Töchtern. Es waren recht hübsche und nette Mädchen, die Älteste hatte ein Hüftleiden, und ich bin nie den Verdacht losgeworden, daß mich “Goldi” für sie kapern wollte - Frauen sind nun einmal von Natur “Kupplerinnen”, in aller Ehrerbietung gesagt.
Noch eine große Annehmlichkeit bot das Haus, nämlich nach dem Platz zu ebenerdig und bis zur Höhe des Hochparterres ein Kolonialwarengeschäft, wo ich höchst bequem alles für einen Junggesellen Nötige erhalten konnte. Hinzu kam, daß der Wohnungseingang auf gleicher Ebene mit dem unseren lag, und man auch außerhalb der Geschäftszeit etwas “hintenherum” erhalten konnte.
Nach der anderen Seite zu lag in einem freistehenden Haus ein recht nettes Lokal mit einem kleinen Garten: wenn einem abends die Bude auf den Kopf fiel, ging man schnell auf ein Bierchen hinüber. Besonders beliebt als Zeitvertreib war ein kleines Billard in einem Nebenraum und ein recht anständiges Grammophon mit einem unzähligen Mal gespielten Platte “Frühlingserwachen” von Sinding.
Ich habe ja schon gesagt, daß ich mir an sich aus Bier nicht viel machte, aber es war billig und löschte den Durst. Hier muß ich eines Mitstudenten gedenken, der die Eigentümlichkeit besaß, in einer Art von “Privatwährung” alles in “kleine Helle” umzurechnen, um dadurch einen Begriff von dem Wert zu gewinnen!
Nun zurück zum Nürnberger Ei, denn dort war die eine Endstelle der Straßenbahnlinie Nr. 11, die quer durch die ganze Innenstadt lief, am Bahnhof unter den hochliegenden Durchgangsgleisen hindurch und an der ebenerdigen Kopfstation vorbei, die berühmte Prager Straße entlang über den Neumarkt und zwischen den historischen Bauten wie Hofkirche, Oper und Zwinger und der Brühlschen Terrasse hindurch über die Augustusbrücke nach Dresden-Neustadt. Bei diesem Namen klingelt es einmal wieder bei mir.
In Neustadt befand sich ein riesiges Militärarsenal, an das sich folgende hübsche Geschichte knüpft. Im Sommer des Kriegsjahres 1916 um die Mittagszeit flog es in die Luft; schwere Eisenteile wurden bis in die Altstadt hinübergeschleudert und es muß einen gewaltigen Knall gegeben haben. Nun heißt es, eine alte stocktaube Oma sei aufgeregt ins Zimmer gerannt gekommen und habe gerufen: “Ginder, ich gloobe, ich gann Widder heern, ähm hads geglobbd!”
Dresden hat immer zu den drei deutschen Städten mit dem reichsten Kulturleben gehört zusammen mit Berlin und München, aber es war diejenige, die und deren Einwohner im Ganzen davon geprägt waren und ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Stellung oder Vermögen lebhaft daran teilnahmen. So sah man in Theater und Konzert ein buntes Gemisch von Eleganz und schlichter Kleidung und deren Trägern an, daß sie sich die Eintrittskarte vom Munde abgespart hatten.
Wir Studenten waren dabei sehr bevorzugt, hatten wir doch mit unserer Karte fast überall freien Eintritt. Man stellte sich abends kurz vor Kassenschluß einfach an und erhielt dann meistens von den nicht verkauften einen guten Platz (mindestens im vorderen Parkett oder sogar auf dem Balkon oder gar in einer Loge). Höchst selten landete man auf dem “Heuboden”; da sah man von den Schauspielern allenfalls noch die Fußspitzen, aber in der Oper schadete das wenig, denn dort herrschte angeblich die beste Akustik.
Die Dresdener Bühnen verfügten über ganz ausgezeichnete Schauspieler und Sänger; einigen von ihnen bin ich später in Berlin an seinen großen Bühnen wieder begegnet (hier Namen zu nennen, hätte für die heutige Generation wenig Sinn).
Es gab auch für die damals sehr gepflegte “Operette” das “Residenz-Theater” mit einem “Richard Tauber”, der alle Welt begeisterte. Auch erwähnen möchte ich die großen Konzert Cafés in der Prager Straße. Eine Zigeunerkapelle hatte die Erlaubnis erwirkt, einmal im Orchester mitspielen zu dürfen, und dann haben sie die Musik in ihrem Cafe glänzend improvisiert in der für sie üblichen Art, indem der Primgeiger unter den Gästen umherging und ohne Pause von einer Melodie zur anderen sprang. Um das musikalische Bild abzurunden, sei noch der Vespern während des Winters in der “Kreuzkirche” mit seinem weltberühmten Knabenchor - unter einem “blinden” Organisten gedacht. Wahrscheinlich war es gerade seine Behinderung und die damit verbundene Feinfühlichkeit, die ihn dazu befähigte, eine Rotte von echten Lausejungen dahin zu bringen. daß sie wirklich sangen “wie die Engel!”.
Auf einem anderen Gebiete der Kunst, nämlich der Malerei besaß Dresden - und besitzt sie glücklicherweise wieder - die berühmte Gemäldegalerie im “Zwinger” allein als Bauwerk einzigartig. Was mich daran anzog waren weniger die riesigen Bilder (“Schinken genannt), etwa eines “Rubens” usw., sondern die “Sixtinische Madonna” von Rafael.
Die großformatigen Bilder hingen in zwei glasüberdachten Innenräumen, kleinere in Einzelkabinen darum herum mit Fenstern. Die Madonna hing in einem Eckraum ganz für sich allein, und in dem richtigen Abstand davon waren rote samtbezogene Bänke aufgestellt, um das Gemälde in Ruhe anschauen zu können - damit hatte es aber leider seine Schwierigkeiten, weil zwischen ihm und den Beschauern sich ein nie endender Strom von Besuchern durchdrängte, um in die nächste Kabine zu gelangen, aber für unsereinen gab es eine Abhilfe. Nur jeder zweite Tag war nämlich für das Publikum unentgeldlich, die Studentenkarte galt aber an sämtlichen Tagen, und so konnten wir die ohne den großen Andrang wählen. Viele Stunden habe ich vor dem Bild verbracht, ohne damals schon zu ahnen, was die Muttergottes religiös einmal für mich bedeuten würde.
An „Weltlichen” Attraktionen besaß Dresden eine ganze Anzahl von Schwimmbädern: zunächst ein großes modernes Hallenbad mit „griechisch-römischer Badeabteilung”, von uns während des Winterhalbjahres eifrig benutzt. In dieser Halle habe ich einmal ungewollt einen „Triumph” gefeiert. Genau in dem Augenblick, als unser Hochschulmeister im Turmspringen zum Absprung ansetzte, entfuhr mir, durch den Raum verstärkt, ein gewaltiger Nieser. Der junge Mann klappte erschreckt in der Mitte zusammen und klatschte wohl ziemlich schmerzhaft mit dem Rücken auf das Wasser: es war ihm nämlich schon einmal passiert, daß unter ihm ein Brett zerbrochen war.
Ferner befand sich angelehnt an den “Großen Garten” ein modernes Sportbad mit 50 m Bahnen, Sprungturm und einer großen Liegewiese. Dazu kamen in der Umgebung ausgedehnte Freibäder mit Möglichkeiten für Sport und Spiel, Baden und Schwimmen; in einem gab es sogar ein „Moor”, in dem man sich prächtig „suhlen” (und in einem Teich wieder reinigen) konnte.
Nach Süden führte die Elbe erst durch ein breites Tal an bewaldeten Höhen entlang (auf einem freien Bergkegel die Festung “Königstein”, auf der später General de Gaulle als Gefangener gesessen, aber auch von dort hat fliehen können) bis zum romantischen „Elbsandsteingebirge” mit der berühmten „Bastei”, einer senkrechten Felswand. Kurz vor der Grenze war darin eine Schlucht, die „Edmundsklamm”, in die man vom Fluß aus hineinfahren konnte.
Sie erweiterte sich dann zu einem kleinen See, besonders malerisch, wenn die steilen bemoosten Wände im Halbdunkel lagen, während ganz oben das Grün der Bäume im Sonnenlicht glänzte. Am hinteren Ende rieselte von oben ein wenig Wasser herab - aber da zeigte sich sächsische „Pfiffigkeit”! Auf der Höhe hatte man ein kleines Rinnsal in einem Becken eingefangen und dieses nach unten zu mit einer Klappe verschlossen. Von dieser führte ein Seil nach unten, und gegen ein kleines Entgelt wurde von dem Bootsführer (für etwa eine Minute) ein richtiger „Wasserfall” ausgelöst - man konnte einfach nicht anders, als an ein “Wasserklosett” zu denken: äußerst praktisch, aber schrecklich banal!
Mir bot sich die Gelegenheit, in eine private Wandergruppe Eingang zu finden, die die Inhaberin eines „höheren” Mädchenpensionats gegründet hatte und die sich aus älteren Teilnehmern, z.T. pensionierten Offizieren mit oder ohne Gattin, aber auch jungem Volk zusammensetzte. Im Sommer wurden von Zeit zu Zeit Ausflüge organisiert, bei der reichhaltigen Landschaft stets zu einem anderen schönen Ziel.
Gleich zu Beginn war ich auch noch anderen gesellschaftlichen „Versuchungen” ausgesetzt. Zunächst geschah das durch meinen hilfreichen Schulkameraden, Angehöriger einer „schlagenden” Verbindung der Burschenschaft. Ich wurde alsbald zu einem „Commers” eingeladen. Aber der „Comment” mit der geschwollenen Redeweise und dem Zwang zum Biertrinken („in die Kanne – ex”- usw.) sagte mir wenig zu, zumal ich mir aus Bier - ausgenommen die Berliner Weiße „mit Schuß” oder ein „Kölsch” oder die süffigen bayrischen Biere, Hefeweizen, „Andechser”, „flüssiges Brot” - im allgemeinen nicht viel mache. Auch in der Sitte, sich beim Fechten die Visage zu zerhacken bis zur „schweren Säbelkiste”, vermochte ich keinerlei Sinn zu entdecken. Schon bei der nächsten Einladung sagte ich dankend und endgültig ab.
Der nächste „Angriff” auf mich erfolgte aus einer ganz anderen Richtung, der „Deutschen Adelsgenossenschaft”. Irgendwie hatte die von mir Wind bekommen, und ich wurde zu einer Abendveranstaltung eingeladen. Dort ging es überaus steif und vornehm zu: ich langweilte mich fürchterlich - und stieg auch hier schleunigst aus.
Das „Wetter” hat nun einmal ein verbrieftes Recht erwähnt zu werden, soll aber ein Zeichen sein, daß einem der Stoff ausgegangen ist. In diesem Fall ist Außergewöhnliches aus meiner letzte Zeit in Dresden zu berichten. Der Winter war schon im Oktober mit Frost eingezogen; ab Januar (bis Mitte März ununterbrochen) fiel das Thermometer in der Nacht bis auf 33 Grad und erholte sich am Tage trotz steten Sonnenscheins nur auf 22 Grad. Die Elbe war so dick zugefroren, daß Pferdefuhrwerke den Weg über das Eis nahmen. Trotz meines großen Kachelofens bekam ich mein Zimmer nie richtig warm. Es war nur darin auszuhalten, wenn ich in einem dicken Mantel und mit einer Decke auf den Knien meinen Sessel direkt an den Ofen rückte; nach dem Fenster zu war es kaum über Null.
Tagsüber hielt ich mich ja in der Hochschule auf, deren Räume gut geheizt waren. Abends hielt man die Zeichensäle bis 10 Uhr offen, so daß man dort arbeiten, lesen oder miteinander etwas spielen konnte. Der strenge Frost richtete an Wasserleitungen und sanitären Einrichtungen in den Häusern großen Schaden an (wir wurden verschont). So befanden sich die Anwohner des Neumarktes dauernd auf dem Marsch zu der unterirdischen und daher frostfreien Toilettenanlage.
Im März ließ der Frost langsam nach, und in einer Nacht gab es einen starken Wärmeeinbruch mit heftigem Regen. Wir erwarteten nun, daß dicke Eisschollen der Elbe sich an den Brückenpfeilern hoch auftürmen würden, und dieses Schauspiel wollten wir uns nicht entgehen lassen. So setzten wir uns gleich am frühen Morgen in die „11” und fuhren zum Ufer hinunter - und was sahen wir? Wind und Sonne hatte das Eis so mürbe gemacht, daß es einfach in kleine Stücke zerbröselt war und mühelos fortgetragen wurde - eine arge Enttäuschung
Da meine dienstlichen Interessen ausschließlich nach dem Westen gerichtet waren, bin ich nie wieder nach Dresden gekommen. Nur einmal habe ich auf einer Bahnfahrt nach Prag beim Überqueren der Elbe in der Abenddämmerung einen Blick auf das schöne Panorama werfen können - etwa 4 Wochen später sank die Stadt in Schutt und Asche.
Schon 1925 war meine geliebte Großmutter gestorben; das „Tantchen” lebte noch weitere drei Jahre. Eines Tages ist sie gefunden worden mit einem Tablett mit Geschirr in der Hand an der Stufe zum Eßzimmer zusammengebrochen. Sie habe nur noch kurze Zeit gelebt und ihre letzten Worte seien gewesen: „Ist ein Telegramm da?” Gemeint hatte sie bestimmt die Nachricht, daß ich mein Diplom-Examen bestanden hätte: die Sorge um mich war ihr letzter Gedanke, der treuen Seele! Zur Beerdigung kamen mein Onkel und meine Tante aus Stettin: der gesamte Haushalt wurde aufgelöst und alles, bis auf kleine Erinnerungsstücke verkauft - es waren die traurigsten Stunden meines Lebens. Nun war ich nicht nur eine Vollwaise, sondern auch praktisch heimatlos. Nämlich wenige Monate später starb auch mein Onkel und Vormund ganz unerwartet. Als Erbe aus dem Kriege litt er stark an Krampfadern und hätte sich dringend operieren lassen müssen, schob das aber auf wegen der Vorbereitung einer Reise der Landwirtschaftskammer nach Budapest. Erst nach der Rückkehr legte er sich endlich zu Bett - schnaufte nachts einmal tief auf - und war tot! Sonst war er kräftig und kerngesund gewesen: als ich ihn zwei Tage danach aufgebahrt erblickte, sah er noch aus wie das blühende Leben.
Der letzte direkte Verwandte aus seiner Generation, mein jüngster Onkel Ernst, hatte sich mit seiner kleinen Offizierpension und seinem geschickten Kartenspiel kümmerlich durchgebracht, und eines Tages entdeckte ich durch Zufall, daß er gar nicht einmal weit von uns in Berlin in einem bescheidenen möblierten Zimmer hauste. Es war offenbar, daß er sich vor mir wegen seines kümmerlichen Lebens schämte und hielt sich von uns fern. Erst auf Umwegen habe ich von seinem Ableben erfahren.
Eisenach habe ich nie wieder betreten, nachdem auch die letzten persönlichen Beziehungen dahin erloschen waren. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges habe ich unsere Familiengräber durch die Stadtverwaltung pflegen lassen - mit der Trennung von der Ostzone mußte das aufhören, denn für solche „kapitalistische” Einrichtungen war dort kein Platz mehr! Da ist es mit der Ruhestätte meines Vaters in Nordfrankreich besser gegangen. Er war zunächst auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt, dann aber später durch die Kriegsgräberfürsorge auf einen sehr schönen Heldenfriedhof umgebettet worden. Unsere jüngste Tochter ist einmal während eines Urlaubs dort gewesen und hat Aufnahmen mitgebracht.
7SCHWEIZ
Sommerliche Ferienreisen dorthin während meiner Studienjahre gehören zu meinen schönsten Erinnerungen und verdienen ein eigenes Kapitel.
Ich verdanke sie meiner ehemaligen Erzieherin, gebürtige Schweizerin, bis zu ihrer Scheidung mit einem Deutschen, einem Chemiker, verheiratet und damit selber im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Wie die meisten schweizer Frauen litt sie unheilbar an Heimweh, dies umso mehr, als sie für einige Jahre beruflich nach den USA versetzt wurden. Bei Kriegsbeginn kehrten sie ins Reich zurück, die Ehe ging auseinander, sie meldete sich sogleich als Krankenpflegerin beim Roten-Kreuz und hat bis zum Ende in Frontlazaretten im Westen schweren Dienst getan. Aufgrund ihrer besonderen Leistungen erhielt sie dann eine Stelle in der ehemaligen Kadettenanstalt in Naumburg als „Erzieherin” für die jüngsten Schüler, eine Neuerung nach der Umstellung auf ein ziviles Internat.
Ihr starkes Verlangen, nach so vielen Jahren ihre Heimat und dort ihre alte Mutter und eine verheiratete Schwester wiederzusehen, konnte jedoch erst in Erfüllung gehen, nachdem auch wirtschaftlich durch die Stabilisierung der Währung in Deutschland wieder einigermaßen normale Verhältnisse eingetreten waren: zu Beginn der nächsten Sommerferien fuhr sie in die Schweiz und nahm mich mit!
Das hat sich dann in den 20ern Jahr um Jahr wiederholt, bis dem durch meinen Berufseintritt und den anfangs kümmerlich wenigen Urlaubstagen und meine Verheiratung mit nun eigener Familie ein Ende gesetzt.
Wir unterbrachen die Bahnfahrt auf einen Tag in Nürnberg, um diese alte, sehenswerte Stadt zu besichtigen, als dort die Reise bereits schon zu Ende gegangen wäre. Mich überfiel eine heftige Mandelentzündung, aber dann geschah ein kleines Wunder. Wir wendeten ein altes Hausrezept an: den reinen Saft von 3 Zitronen hintereinander tropfweise schlucken. Das tat in dem wunden Rachen scheußlich weh - aber es hat tatsächlich geholfen. Zwar schmerzte der Hals noch, aber der Belag im Schlund und das leichte Fieber waren verschwunden, und wir konnten weiter reisen.
Nun ging es nach Lindau am Bodensee; dort wurde zur Überfahrt ein schmucker weißer Dampfer nach Romanshorn am anderen Ufer bestiegen. Schon der Anblick des Sees war ein ganz neues Erlebnis. Infolge der hochsommerlichen Hitze verschwamm die Schweizer Seite so im Dunst, daß man hätte meinen können, daß flaschengrüne Wasser erstreckte sich bis in ein endloses Meer.
Richtig habe ich die offene See aber erst später während eines Ferienaufenthaltes bei meinem Onkel in Stettin, bzw. in Swinemünde kennengelernt. Es gab da auch eine jüngere hübsche Kusine, die damals den “Herrn Studenten” etwas anhimmelte. So hatte sie sich einmal auf meine Knie gesetzt, mir lang und tief ins Gesicht geblickt: “Du hast genauso schöne braune Augen wie „Bautz”!” Das war gewiß als Kompliment gedacht, ich empfand es dennoch nicht ganz als eine Schmeichelei, denn es war ein ruppiges Vieh von der Art „wo's bellt, ist vorn - wo's wedelt, ist hinten”.
Eines Sonntags durfte ich mit ihr einen Dampferausflug an die Ostsee machen - aber leider kamen wir zur Abfahrt zu spät, und der Kahn war fort! Ganz so arg war das aber nicht, wir hatten ja Ferien und versuchten es also am nächsten Morgen noch einmal. Dabei ahnten wir noch nicht, daß es das Schicksal mit uns am Vortag gut gemeint hatte. Bei unserer Abfahrt war es noch etwas neblig und bei der Ausfahrt ins Haff begegneten wir jenem Schiff, das uns am Vorabend nach Hause gebracht hätte. Mitten auf dem Haff war nämlich ein so dicker Nebel hereingebrochen, daß es im Fahrwasser hatte bis zum Morgen vor Anker gehen müssen.
Nun bot es vollgepfropft mit nur sommerlich dünn bekleideten, hungrigen, übermüdeten und durchgefrorenen Leuten uns einen erbarmungswürdigen Anblick.
Wir kamen bei wieder sonnigem Wetter in Swinemünde an, rannten gleich hinunter zum Strand und konnten eine tiefblaue See bewundern, auf der immer noch weiße Schaumköpfe tanzten. Wir schwammen nach Herzenslust in der kräftigen Brandung (und handelten uns natürlich einen Sonnenbrand ein). Nur kurze Zeit vor der Rückfahrt bewölkte es sich wieder, eine Wolkenbank zog vom Meer herein und es gab eine kleine Dusche, gerade als wir uns einschifften. Hinter dem abziehenden Regen kam die schon tieferstehende Sonne wieder zum Vorschein und erzeugte den prächtigsten Regenbogen, den ich je erlebt hatte. Doppelt spannte er sich über die ganz Breite des Haffs - aber noch mehr. Die Regenwand hatte nicht mehr Geschwindigkeit als unser Schiff, und so konnten wir das Schauspiel fast eine halbe Stunde genießen; Und nun wieder zurück zu unserer Schweizreise.
Auf dem Dampfer trafen wir eine kleine amerikanische Reisegesellschaft beste-' hend aus drei mittelalterlichen Damen. Sie hatten kein Auge für die schöne Landschaft, verschwanden sofort im Restaurant im Innern. Dort bestellten sie mit den offensichtlich “Drai Aier”. Dazu schnatterten sie lautstark, rauchten eine Zigarette nach der andern, und waren zum Schluß sogar bei dicken Zigarren angelangt.
In der Schweiz erwartete uns gleich eine Überraschung. Wir waren zum nächsten Geldinstitut gegangen, um etwa 100 Mark einzuwechseln: wir erhielten 4 “goldene (!)” 20-Franc-Stücke und etwas Kleingeld. Es schien uns wie ein Märchen (wenig später hat das ein jähes Ende gefunden, denn die deutsche Lust am Umtausch wurde zu groß).
Im ersten Sommer wohnten wir bei Mutter und Schwester in einem netten Vorort oberhalb von Zürich, mit der Stadt durch eine Schnellbahn verbunden. Sie hat mir gleich sehr gefallen in ihrer Vielgestaltigkeit: das Zentrum ganz großstädtisch mit seinen Geschäftsstraßen mit internationalem Zuschnitt, die ländlich/lieblichen Vororte entlang der Seeufer.am Fuße bewaldeter Höhenzüge, endlich die prächtige Terrasse mit weitem Blick auf den See hin bis zu der Kette der zum Teil schneebedeckten Alpengipfel.
Öfter fuhr man hinunter bummeln in die Stadt, oder wie es auf Schwyzerdütsch hieß: “uf Züri abe, go g'lumpe!”. Besonders beliebt war zum Abend das Geläut des “dicken Peter” mit einer riesigen Glocke, das man am See stehend mit den Füßen erfühlen konnte.
Das gute und warme Wetter verlockte zum Baden im See, aber die Hitze war so groß, daß das Wasser schon frühmorgens an die 30 Grad hatte und man schon beim Schwimmen ins Schwitzen kam. Da war eine Fahrt mit einem Ruderboot erholsamer. Für mich führte sie zu einem peinlichen Erlebnis. Ich hatte nur ein blütenweißes Hemd und eine ebensolche Hose an. Eine leichte, an sich sehr angenehme Brise schickte Spritzer ins Boot. Nun hatte ich beim Rudern auf einem Kissen gesessen, knallig gelb mit einem kräftigen violetten Schrägstreifen - Unheil geschieht: die Sitzfläche meiner schönen eleganten Hose prangte in den Farben des Kissens! Wie gesagt: ziemlich peinlich für einen etwas eitlen jungen Mann.
Aber endlich fand ich mich damit ab, weil wir doch den ganzen Tag hatten dableiben wollen und trösteten uns mit einer anderen “Sensation”.
Bevor die Limmat unter einer breiten Straßenbrücke hinweg in den See mündet, konnte man über einen schmalen Steg hinweg eine kleine künstliche Insel betreten, das “Buu-Schänzli” wohl “Bauschanze) mit einem Restaurant und einem schattigen Wirtsgarten - und einer besonderen Attraktion: dem “Schüblig”, einer dicken, sehr würzigen Kochwurst!
Noch ein anderer kulinarischer Genuß wurde uns bei der Anreise zuteil, der sich der Erinnerung eingeprägt hat, weil er an unsere verhungerten Mägen vom Krieg her stieß: das/der “Cafe Complet”, bestehend aus einer großen Kanne besten Bohnenkaffees, einer ebensolchen heißen fetten Milch, allerlei Backwaren, einem Riesenstück goldgelber Butter, verschiedene Gelees und einen Topf köstlichen Bienenhonig. Anfangs haben wir für diesen Genuß lieber auf ein warmes Essen verzichtet.
Schweizer sind, obwohl sie mehr als ein Jahrhundert keinen Krieg geführt haben, erstaunlich militant und außerdem sehr nationalistisch. Sie verfolgen die Ereignisse in der Welt aus der Geborgenheit ihrer Berge fast überkritisch, besonders gegenüber Deutschland, den nicht sehr beliebten “Schwoben” (zuweilen mit dem Zusatz “Chaibe”, so etwas wie “mies”, auf jeden Fall ein Schimpfwort) - uns gegenüber wissen sie alles besser und geben fleißig nicht erbetene Ratschläge. Als ich gerade dort war, hat sich dazu etwas sehr Lustiges ergeben.
Der Züricher Hauptbahnhof mit seinem internationalen Durchgangsverkehr hat zahlreiche dicht nebeneinanderliegende Bahnsteige: sie haben keine Sperren und einen starken Publikumsverkehr und die Züge wurden mit Tri 1lerpfeifen abgerufen. Einige Male ist es wohl in dem halligen Raum passiert, daß ein falscher Zug abgefahren ist, und man ist dann auf die sonst übliche “Kelle” übergegangen. Dabei ist ein für freiheitsliebende Schweizer Fürchterliches geschehen: ein Unglücksmensch hat zugleich die deutsche Bezeichnung “Befehls”-Stab übernommen!! Eine unbeschreibliche Welle der Empörung ging durch das freiheitsliebende Land. Die Züricher Zeitung (Zürizitig”) hat durchaus Weltblattformat; an Samstagen erscheint sie bis zu sieben Ausgaben; prominente ausländische Politiker schreiben in ihr - aber wochenlang waren die Leserspalten von den wütenden Protesten gegen den Befehlsstab erfüllt. An der Sache (tatsächlich praktisch) hat sich dadurch nichts geändert.
Um den 1. August ist in der Schweiz Nationalfeiertag mit besonderen Bräuchen.
So zieht man auf die Höhe zu Tanz und Trank, glühende Reden werden gehalten, an manchen Orten große Holzräder mit Stroh durchflochten und brennend zu Tal rollen gelassen. Als ich dabei war, ereignete sich noch etwas Besonderes: In dieser Jahreszeit treten ja am Himmel große Sternschnuppenschwärme auf, gewöhnlich hier ein paar und dort ein paar und wegen ihrer Seltenheit geeignet, sich dabei etwas zu wünschen - aber in jener Nacht war es ein richtiges Feuerwerk.
Jedes Jahr machten wir eine schöne Tour anderswohin, z.T. als Wanderung; im ersten zunächst zum Vierwaldstätter See. Wir fuhren bis “Brunnen” mit derberühmten “Tellskapelle” und von da ein Stück die “Axenstraße” an einer Bucht des Sees entlang in Südrichtung auf den Gotthard zu. So schön das Wetter auch sonst war, an dem Tag goß es, was vom Himmel runter wollte. Aber einmal war es ein ganz warmer Sommerregen und wir passend gekleidet, das kann dann auch seine Reize haben, die z.T. darin bestanden: die Wolken hingen bis zum Wasser hinunter, und man konnte keine 50 m weit und schon garnicht bis zum anderen Ufer blicken. Aber dann kam plötzlich ein heftiger Windstoß, und fast zum Greifen nahe erhob sich direkt aus dem See ein hoher Berggipfel. Schon wegen des Wetters kehrten wir zur Übernachtung in den nächsten großen Gasthof ein, auch noch aus einem anderen Grund.
Von hier aus zweigte nämlich die Straße zum “Klausenpaß” ab, wo wir die nächste Nacht bleiben wollten, um dann ins Tal nach “Glarus” abzusteigen, wo wir bei Freunden zu Besuch angemeldet waren. Der Weg führte fast geradeaus auf der linken Hangseite entlang, dauernd mit Blick auf die gegenüberliegende Bergkette. Eben war es noch ganz klar gewesen, da schoben sich miteinmal dünne und immer dicker werdende Nebelfahnen aus den Seitentälern hervor - und im Nu war um uns alles dicht. Das Tal lief ja nach Osten, die Sonne war bereits am Untergehen und schien nun für uns von hinten auf die Nebelwand und färbte sie “blutrot”!
Als wir am nächsten Morgen frisch erwachten, erwartete uns wieder eine Überraschung: es hatte in der Nacht einen guten halben Meter geschneit!
Bis wir aber weitermarschierten, war das meiste weit hinunter schon wieder abgetaut und gegen Frühnachtmittag erreichten wir unser Tagesziel die Kantonshauptstadt “Glarus” und kehrten bei schweizer Verwandten ein, die uns eingeladen haften. Sie liegt in einem breiten von hohen Bergen eingeschlossenen nach ihr benanntem Tal. In dieses springt ein gut tausend Meter hoher Gipfel, der “Tödi”, ohne große Kletterei bequem zu besteigen und mit einem großartigen Rundblick. Am übernächsten Tag fuhren wir wieder nach Zürich zurück.
Sehr schnell lernte ich Land und Leute immer besser kennen und hatte auch mit der Verständigung keine Schwierigkeiten. Mit meiner Vorliebe für Dialekte eignete ich mir einiges davon an, habe ihn aber doch nie ganz gelernt, dazu war die Zeit jedesmal zu kurz. Die Schweiz ist ja (von etwas Rätoromanisch abgesehen) mit Deutsch, Französisch und Italienisch dreisprachig, und fast jeder konnte sich darin mindestens verständigen. Das wurde von Staatswegen dadurch gefördert, das man z.B. junge Briefträger kurzerhand ohne Vorbereitung in einem anderssprachigen Lahdesteil einsetzte und darauf vertraute, daß sie mit der freundlichen Hilfe der Bevölkerung schon durchkommen würden.
Für Fremde am auffallendsten ist das rauhe Rachen-”ch”. Allerdings hat einmal einer aus preußisch Berlin gemeint: “Schweizerdeutsch ist doch garnicht so schwierig - passense mal auf: Ober bringse mal ne Molle und 'n Korn, krch, krch, krch!” Wie auch bei uns machen sich Landesteile über andere lustig, so z.B. über die Appenzeller, denen man einen schlichten Geist nachsagt mit dem Vers: “Die Appenzeller, die fresse den Chäs mitsamt dem Teller!” Da sind auch die Berner, die besonders langsam sein sollen: sieht da auf der Straße ein Berner einen andren, der heftig auf einer kleinen Schnecke herumtritt, und fragt ihn: “Herr Nachbar, was hat ihne denn das arme Tierli getan?” und erhält zur Antwort:
“Das sagget Sie, da hab ichch eine rechchte Wut darauf - das verfolget rnichch schon siet dem Bahnhof!”
In einem folgenden Jahr stand als Ausflug “Furka- und “Grimselpaß” im Berner Oberland auf dem Programm. Wir fuhren über “Zug” am Vierwaldstätter See zunächst in Richtung Gotthard, stiegen dann in Andermatt um, wo sich das Tal zu einem breiten Grund erweitert (auf dem übrigens jeden Sommer Truppenübungen .abgehalten werden). Von dort fuhren wir weiter bis zu der Station unterhalb des “Furka”, unserem ersten Ziel, und wanderten zum Paß hinauf. Dort bestiegen wir für die Abfahrt ins Rhonetal einen jener starken Omnibusse, ohne Verdeck und wegen der scharfen Nadel kurven mit so geringem Radabstand, daß das hintere Ende jedesmal über dem Abgrund schwebte. Das löste bei einigen weiblichen Insassen jedesmal Angstschreie aus und veranlaßte den Fahrer, der das schon kannte, anzuhalten und einige aussteigen zu lassen, die lieber zu Fuß hinuntersteigen wollten und dann unten wieder aufgesammelt wurden. Das war möglich, weil der Bus wegen des starken Gefälles nur langsam fuhr und der Fußweg sehr viel kürzer. Unten stiegen wir in einen anderen Bus um, der uns über den “Grimsel”-Paß zu unserem Hotel im nächsten Ort bringen sollte.
In der Schweiz gibt es - oder gab es - eine sehr praktische Einrichtung. Um nämlich möglichst wenig Gepäck mitschleppen zu müssen, kann man es mit einem Bus vorausschicken, selbst wenn man nicht mitfährt. Das hatten wir auch getan - aber leider fanden wir es am Abend in unserem Hotel nicht vor: es war aus Versehen nicht ausgeladen worden und zur Endstation in 'Interlaken durchgelaufen.
Aber man ist in der Schweiz sehr kulant und schickte sofort jemanden mit dem Wagen los, um es zurückzuholen.
Vom Paß aus zieht sich ein langes Tal fast in gerader Linie bis “Interlaken” (=“zwischen den Seen”, nämlich dem Thuner und Brienzer). Auf der rechten Seite verläuft ein bequemer Höhenweg, von dem man die ganze Zeit freien Blick auf die Dreiergruppe “Jungfrau, Mönch und Eiger” genießen kann - und das haben wir auch getan.
In Interlaken haben wir dann zur Heimfahrt den Zug in Richtung Luzern bestiegen. Die Fahrt vorbei an Seen und über einen kleinen Paß waren schon sehr hübsch, besonders aber die Begegnung mit einer amerikanischen Reisegesellschaft; sie bestand aus einer ältlichen Miss und drei jüngeren Mädchen.
Die Wagen hatten einen durchlaufenden Mittel gang mit offenen Abteilen, so daß man mitkriegte, was nebenan vor sich ging. Die Leiterin blieb stocksteif sitzen und hielt einen Coo's Reiseführer auf dem Schoß und machte daraus ihre Schützlinge auf vorbeiziehende Attraktionen aufmerksam: “Look, children, the “Pailätös” (“Pilatus”), und die Mädchen stürzten mit Begeisterungsrufen zur betreffenden Fensterseite - oder “the Vierwaldstätter lake”, dann ging es mit “wonderful” zum gegenüberliegenden Fenster.
Es gab natürlich auch längere Pausen, in denen man miteinander schnatterte, und daraus ließ sich nun folgendes entnehmen. Sie befanden sich auf einem Vierwochentrip durch Europa, gerade etwa in der Mitte der dritten Woche. Schweden, Dänemark, einen Teil von Westdeutschland, Österreich, Italien und Spanien hatten sie schon hinter sich, und nun stand nur noch Frankreich und England aus und von da zurück in die USA. Das hatten sie überhaupt nur schaffen können, daß sie den ganzen Tag in Zügen verbrachten und für die Sehenswürdigkeiten allein auf den “Cook's” zurückgriffen. Es muß in ihren Köpfen ausgesehen haben wie in überfüllten Mülleimern - aber wieder daheim würden sie stolz verkünden: “We made Europe in four weeks!”
In unserem Wagen gab es sogar ein Gegenstück zu ihnen: drei mittelalterliche rundliche holländische “Meisjes”. Seit Interlaken saßen sie mit ansehnlichen Freßkörben auf dem Schoß und sahen nicht rechts und nicht links - als wir in Luzern umstiegen, “fraßen” sie immer noch!
Nachdem der Name “Pilatus” schon gefallen ist, soll - als Letztes - über einen Ausflug dahin in einem anderen Jahr berichtet werden. Für Kenner geht es nicht allein um den herrlichen Rundblick über den See und die Berge: es kommt darauf an, daß man genau in dem Augenblick auf dem Gipfel ankommt, wenn die aufgehende Sonne die Bergkette in ein rosiges Licht taucht: d.h. man muß in der Nacht aufsteigen. Wir fuhren also mit der letzten Straßenbahn von Luzern an den Fuß des Pilatus und begannen den Aufstieg. Er führte zunächst über weite Hänge und Matten (wobei wir ab und zu in der Dunkelheit über schlafende Kühe stolperten). Der See tauchte gewissermaßen unter uns weg und bot mit tausenden von Lichternan den Ufern einen schönen Anblick. Da wir noch zu früh ankommen würden, legten wir einen kleinen Schlaf in einem Heuschober ein. Der Berg stieg jetzt steiler an, und der Weg führte nach hinten um ihn herum und im Zickzack zum Gipfel empor. Er endete an einer Grotte im Felsen, und dort gab es einen Durchstieg mit einer Leiter: und tatsächlich genau in diesem Augenblick ging die Sonne auf und bescherte uns das erhoffte morgendliche Alpenglühen!
Der breite Hauptgipfel verlief in einem leichten Bogen zum See hin. Der nackte Fels ging schon bald in eine fast ebene Mulde, eine Matte mit üppigem Gras über. Am gegenüberliegenden Rand erhob sich dann wieder eine etwas niedrigere Bergkuppe. Nach der Nacht, fast ohne Schlaf, ließen wir uns erst einmal zu einer längeren Ruhepause nieder und stärkten uns aus der mitgeführten Wegzehrung.
Wie dortzulande nicht unüblich bestand sie lediglich aus guter schweizer Milchschokolade und einem Ranft Emmentaler, ohne Löcher mit salzigem und stärker “käsigem” Geschmack und daher sehr milde und sahnig und mit der Schokolade zusammen gut zu essen - ein richtiges Kraftfutter, das wenig Platz einnahm. Sodann machten wir uns an den Abstieg.
Nach links gab es nur die “Pilatus-Bahn”, die steil und schwindelerregend zum Seeufer hinabstürzte; mit ihr hatten wir nichts im Sinne - nach rechts hin sollte es einen Fußweg geben - leider verpaßten wir ihn erst einmal. Wir gingen durch ein lichtes Wäldchen unmittelbar am Rand einer senkrecht abstürzenden Felswand - und kamen immer höher. Wir gingen nun weiter, weil wir entfernt das Läuten von Kuhglocken hörten und kamen auf eine Alm, wo wir uns erkundigen konnten. Wir mußten ein ganzes Stück zurück, bis wir den Abstieg fanden: sehr abschüssig mit grobem Schotter oder über Geröll. Eigentlich gar kein richtiger “Wanderweg” war er dazu angelegt worden, um im Herbst das wertvolle Heu zu Tal zu bringen: das geschah mit kräftigen, hochbeladenen Schlitten, deren Kufen endeten vorn in hochgezogenen Hörnern. Man stellte sich zwischen sie hinein, hielt sich daran fest und bremste durch Stemmen der Füße gegen die Steine.
Als Fußgänger verhielt man sich ähnlich. Aber unerfahren und ungeübt, setzten die Stöße bei jedem Schritt den Gelenken der Beine mächtig zu und das stundenlange Hinuntersteigen führte unvermeidlich zu dem berühmten “Knie-Schepper”.
Noch längere Zeit, nachdem man unten den ebenen Boden erreicht hatte, knickte man um, ohne etwas dagegen tun zu können - nicht nur lästig, sondern auch schmerzhaft - und besonders hübsch hat es sich gewiß auch nicht angesehen. Wir aber blieben davon zum Glück weitgehend verschont, denn dort, wo wir die Uferstraße erreichten, befand sich just die Endhaltestelle der Straßenbahn vonLuzern und fuhr uns jetzt wieder zurück. Bei uns blieb es bei einem kräftigen Muskelkater, der nach einem ganzen Ruhetag wieder verschwunden war.
Nach dem ersten Ferienaufenthalt bei Zürich wählten wir uns das “Wengibad” als ständiges Quartier am Westhang des “Albis”, der sich entlang des Zürisees auf halber Höhe erstreckte. Der Besitzer betrieb das Bad mit seiner liebenswürdigen Gattin mehr aus Liebhaberei. Bevor er es eröffnet hatte, erlernte er das Hotelgewerbe gründlich in ersten Häusern in der Welt und vor allem auch die Kunst des Kochens. Es gab nicht nur mittags eine warme und reichhaltige Mahlzeit, sondern auch öfter noch abends und dabei niemals das gleiche - es sei denn, die Gäste hatten es sich ausdrücklich ausgebeten. Die Schweiz liegt ja am Kreuzungspunkt der drei besten Küchen in Europa, der italienischen, österreichischen und französischen und mancherlei aus persönlicher Fantasie. Da waren, als bei mir sehr beliebte Spezialität, die sog. “Müsli-Küchli”, zarte Salbei blätter hochfein mit Teig überbacken: die Stiele, die hinten herausschauten, hatten ihnen den netten Namen gegeben. Sonntags ließ es sich der Wirt nicht nehmen, für seine Gäste ganz persönlich zu kochen - und dann besonders ausgezeichnet! Als weitgereister Mann war er geistig sehr rege und vielseitig gebildet, war mit Professoren der Hochschule in Zürich befreundet; die kamen dann an manchen Samstagen z.B. zum Forellenessen und zu lebhaften Gesprächen.
Das Gebäude war ein langgestrecktes Landhaus im schweizer Stil, d.h. mit viel Holz und reichem Blumenschmuck. Unten am Hang standen bequeme Bänke, und ein Zickzack Weg wurde von reichem Blumenschmuck begleitet, vor allem hochstämmige Rosen. Über das Tal hinweg blickte man auf einen großen Wiesenhang mit Obstbäumen und einem großen Bauernhof. Der hatte eine besondere Anziehungskraft, denndort wurden weit und breit berühmte “Wähen” gebacken: riesige flache Radkuchen belegt nicht nur mit allen Arten von Obst, sondern auch Gemüsen wie z.B. Spinat und Pilzen und dann mit einem Eierteig überbacken.
Oben am Hof vorbei lief eine Fahrstraße entlang durch Wiesen zu den verstreut anliegenden Bauernhöfen. Hier konnte man erleben, wie stark die Leute mit Natur und Technik in Einklang lebten. Trat man im Erdgeschoß ein, so wurde dies durch die “Milchwirtschaft” ausgefüllt, bis zur Decke schneeweiß gekachelt und so blitzblank, daß man vom Boden hätte essen können und andererseits alles voll mechanisiert und ganz modern elektrifiziert. Um so auffallender war es, wenn man dann in der Sommerhitze dem Bauern selbst begegnete, wie er - verschwitzt und verstaubt - auch den letzten Grashalm von dem schmalen Wegrain einbrachte. Aber sonn- und feiertags saß er in blütenweißem Hemd am Steuer seines hochmodernen “Essex Super Six”!!
Ein Stück an seinem Haus vorbei gelangte man zu einem kleinen See mit etwas moorigem Wasser, unserem täglichen Badeziel - nur daß uns dort Schwärme von Bremsen den Genuß zu schmälern versuchten. Wir hatten aber bald heraus, daß die Stiche nur ganz kurz juckten, wenn man nicht kratzte - und daß die Viecher ihr eigenes Gift, das eigene Gift in dem Blut ihrer Opfer, nicht mochten und sehr schnell vom Stechen abließen.
Das schmucke geräumige Wengibad bot Platz für gut 20 Gäste, besaß eine getreue Kundschaft, darunter sogar eine reizende englische Dame, die jedes Jahrwiederkam, obwohl sie kaum ein paar deutsche Worte sprach. Es war in den ziemlich steilen Hang hineingebaut, enthielt zu ebener Erde von hinten den großen Speisesaal mit einzelnen Tischen; draußen davor befand sich eine überdachte offene Holzverandä, ein beliebter Aufenthaltsort in der sommerlichen Hitze und am Abend zum Lesen, Schreiben oder geselligen Spiel. An einem Ende des Hauses befand sich eine große, ganz in Holz getäfelte Wirtsstube. Am Abend trafen sich dort die Bauern aus den umliegenden Höfen zu einem Trunk und zum Kartenspiel, dem “Jassen”, so eine Art Mittelding zwischen Skat, Doppelkopf und Tarock., Ich habe keinen Versuch gemacht es zu lernen, aber habe gerne einmal zugeschaut, wenn meine Begleiterin früher schlafen gegangen war. Lebhaft ging es da schon zu, denn die “Schwyzer” sind recht temperamentvoll. Die Karten wurden wirklich auf die mit Sand weißgescheuerten Tische “geknallt” und jedes Spiel eingehend und lautstark kommentiert (“Leichenreden” sagt man auch bei uns dazu). Wenn man außen an der Tür vorbei kam, hätte man meinen können, drinnen sei eine Revolution ausgebrochen oder mindestens eine Keilerei im Gange; aber alles war harmloser Spaß.
Ich habe in der Zwischenzeit die Verbindung zur Schweiz nie völlig verloren. Autotouren mit unseren Kindern in Bayern haben mich immer einmal wieder an aus der Jugendzeit bekannte schöne Plätze geführt. Aber der Zahn der Zeit, “der schon manche Träne getrocknet hat” läßt nicht nur “über Wunden Gras wachsen”, sondern “nagt” auch an den Dingen, und so habe ich beim Wiedersehen manche Enttäuschung erlebt - die schlimmste war das “Wengibad”. Wir hatten es nach einigen Mühen, dank eines verrosteten und verbeulten Wegweisers endlich gefunden - aber was war daraus geworden. Die früheren Besitzer waren längst verstorben, das Haus selbst war “säkularisiert” worden, d.h. in Mietwohnungen aufgeteilt worden mit wildfremden Leuten, die von der Vergangenheit nichts wußten: ich hatte ganz übersehen, daß zwischen damals und jetzt ein rundes halbes Jahrhundert lag. Ziemlich betrübt - wenigstens ich - setzten wir die Heimreise über Zürich fort - aber dort gab es für Erinnerungen doch noch einen tröstlichen Lichtblick,die kleine Insel, das “Buu-schänzli” fanden wir noch unverändert vor und den “Schüblig” genau so köstlich wie dunnemals!
Inzwischen gibt es eigene familiäre Beziehungen mit der Schweiz. Unser ältester Enkel hat nicht nur in St.Gal len sein Ingenieurexamen gemacht und dabei tagsüber in einer Elektronikfirma gearbeitet, eine junge schweizer Lehrerin kennengelernt und noch während seiner Ausbildung geheiratet. Es erwies sich für ihn als großer Vorteil, daß er außer seinem Studium 3 Jahre Industriepraxis mitbrachte und fand sofort Arbeit bei einer schweizer Firma (elektronische Steuerungen von Werkzeugmaschinen). Aufgrund seiner Vorbildung wurde er sogleich auf 3 Jahre in ein Zweigwerk in den USA geschickt und hatte soviel Erfolg, daß er nach der Rückkehr einen einträglichen Posten als “Public Relation Manager” erhielt mit einem eigenen Team im Hauptwerk in Thun. Damit ist für mich in der Schweiz ein neuer Anziehungspunkt entstanden.
8.BERLIN
Es war damals üblich, junge Diplomingenieure von der Hochschule weg erst einmal eine 3-jährige “Information” durchlaufen zu lassen, während der sie mit den vielen Sparten des Be- und Vertriebes bekanntgemacht wurden und andererseits ihre Fähigkeiten und Neigungen beobachtet werden konnten, bevor man sie endgültig für eine bestimmte Tätigkeit einsetzte. Immerhin war für mich von vornherein die “automatische Fernsprechtechnik” vorgesehen in Richtung auf die sog. “VSa”-Abtei1ung (Vielfachselbstanschlüß). (Es ist ein politisches Kuriosum, daß das “Sa” wegen der Ähnlichkeit mit der nationalsozialistischen “SA” in “Fg”-Fernsprechgeräte hat umgeändert werden müssen.)
Für mich begann es aber nicht im Werk in Siemensstadt selbst, sondern ich wurde zunächst auf 3 Monate zum Technischen Büro Mannheim geschickt, um Einblick in den Außendienst zu erhalten. Der mir völlig fremden Stadt habe ich nach den schönen Jahren in Dresden in einer unwohnlichen “Bude” nach einem dunklen Hinterhof hinaus und bei winterlichem Schlackerwetter wenig abgewinnen können.
Zum Glück wurde die Zeit aus irgendwelchen organisatorisehen Gründen verkürzt und ich zum neuen Jahr (1930) ins Werk nach Berlin zurückbeordert.
Dort fand ich für einige Zeit freundliche Unterkunft bei einem mir nahestehenden jungen Arztehepaar und zugleich menschliche “Ansprache” in dem modernen “Neuwestend” in Charlottenburg. Von der Wohnung im obersten Geschoß hatte man einen hübschen Blick auf den innerhalb des großen Häusergevierts befindlichen “Sachsenpark”. In seiner Mitte lag vertieft ein kleiner künstlicher See; um ihn herum lief ein Uferweg. Das dahinter leicht ansteigende Gelände war so geschickt mit Büschen und Bäumen bepflanzt, daß der Blick auf die mehrstöckigen Häuserblocks fast vollständig verdeckt war und man sich mitten im Wald wähnte. Den Sommer über tummelten sich Wildenten auf dem Wasser, und besonders reizend war es, wenn die gerade erst geschlüpften Kleinen sich sofort in den Teich stürzten und munter kreuz und quer darauf herumsausten.
An einer Seite schlossen sich einige Tennisplätze an. Während des Studiums hatte ich viel gespielt. Die Anlagen auf dem Hochschulgelände hatten aber uns Studenten kostenlos zur Verfügung gestanden; das wäre nun hier anders und kaum für meinen schmalen Geldbeutel erschwinglich gewesen. Im Winter aber bot die Anlage einen anderen billigen Sport: “Schlittschuhlaufen”: man setzte die Plätze einfach unter Wasser und ließ es gefrieren. Ich war ein recht guter Läufer gewesen und versuchte es gleich mit einem eleganten “Eissprung” - und knallte auf den harten Boden! Der Sturz war umso heftiger und schmerzhafter, weil das fest auf der Erde liegende Eis ganz unelastisch war und ich außerdem in einer Gesäßtasche einen gewaltigen “Hausknochen” trug - der wurde stark verbogen und verpaßte mir einen tüchtigen Bluterguß und tagelange Sitzbeschwerden .
Die Werke in Siemensstadt liegen fast genau nördlich von Neuwestend und waren in einem leichten Zuckeltrab in einer knappen halben Stunde zu erreichen, während die Bahn mit Umsteigen einen großen Umweg machte, so daß man damit sogar noch etwas länger brauchte. Laufen war sowieso gesünder und morgendliche Zeitknappheit konnte man leicht durch ein bißchem mehr Tempo ausgleichen.
Nach beinahe 5 Jahren in dem geruhsamen Dresden bedeutete für mich die Millionenstadt mit ihrer Ausdehnung und Betriebsamkeit eine große Umstellung. Man sagt, Paris sei “eine Messe wert” - ich finde, Berlin auf seine originelle Weise auch. Gegenüber den “Champs Elysees” nehmen sich die “Linden” halt recht ländlich bescheiden aus; das empfanden die Berliner anscheinend auch. Als die überalterten Bäume hatten gefällt und durch junge ersetzt werden müssen, wurde gespottet:“Ätsch, mein Baum hat sieben Blätter”.
Sonst war für mich alles um mehrere Nummern größer; aber was die Entfernungen anbetraf, so glichen dies U- und S-Bahn wieder aus. Da gibt es aus der Zeit vorher eine nette Geschichte zu erzählen.
Anfangs war die Berliner Ringbahn eine “Dampfbahn” mit gewöhnlichen Personenwagen mit lauter Einzelabteilen nebeneinander jedes mit einer eigenen Tür; außen entlang liefen ziemlich steil übereinander Trittbretter zum Ein- und Aussteigen. Saß da nun eines Tages eine wohlbeleibte Frau und schluchzte herzzerbrechend: “Ich bin nun mal ziemlich dick und namentlich das Aussteigen ist für mich recht beschwerlich. Um mich dabei gut festzuhalten, versuche ich es immer rückwärts - dann kommt jedesmal der Schaffner, denkt ich will einsteigen, gibt mir einen kräftigen Schubs nach vorn und knallt die Tür hinter mir zu - und nun bin ich schon dreimal um ganz Berlin gefahren, ohgottohgott, ohgottohgotte!”
Die U-Bahn nimmt in meiner Erinnerung nicht nur deshalb einen Ehrenplatz ein, weil sie nicht bald unter der Erde, bald als Hochbahn, sondern einmal sogar mitten durch ein großes Wohnhaus fährt. Man sitzt ja längsseits auf durchlaufenden Bänken einander gegenüber. Um dort den anderen nicht dauernd ins Gesicht schauen zu müssen, richtet man den Blick unwillkürlich schräg nach oben, - das hat sich eine Firma zunutze gemacht und längsseits ihre Werbesprüche angebracht wie diese: “Wenn zwei sich gut vertragen, sind's BULLRICH und dein Magen” oder “Schon der Jäger aus Kurpfalz nahm oft und gerne BULLRICH-Salz” oder noch schöner “Nötig wie Braut zur Trauung ist BULLRICH-Salz für die Verdauung”.
Der Berliner hat es immer eilig, auch ohne besonderen Grund und verulkt sich deswegen selber. So sollen eines späten Abends drei Männer zum Potzdamer Ringbahnhof gehastet und zum Bahnsteig gerannt sein, an dem gerade ein Zug abfahrbereit stand. Zweien gelang es noch eben, sich durch die Tür zu quetschen, die sich gerade schloß, während der Dritte zurückblieb und aus vollem Halse zu lachen begann. “Männeken”, sagte ein Beamter, “da jibt et nischt zu lachen - det war der letzte Zuch!” “Weß ick, ick lache nur, weil ich et eegentlich bin, der fahrn wollte, die anderen haben mir bloß herbejleitet.”
Was wäre Berlin ohne die Berliner, obwohl angeblich nur jeder dritte ein waschechter sein soll, die anderen stammten aus Breslau. Er besteht aus Herz und aus S c h n a u z e , ist leicht ein wenig weichmütig und freundlich zu Menschen und Tieren (“so'n Pferd is doch ooch 'n Mensch”). Auf der anderen Seite ist er berüchtigt wegen seiner “Kodderschnauze”, der nichts heilig ist, und zu allererst von sich überzeugt: “wo ick bin, is imma oben!”
Als nach dem Krieg die Stadt bös zerbombt war, trat jemand im Rundfunk auf und erzählte: “Jeh ich doch jestern in een pikfeinet Restaurang, kommt ma eener ent- jejen, imposante Fijur, hohe Denkastirn, jeistfollet Ooge - Mensch, sare ick mia, den mußte kennlern, stürz uff ihm zu und - knall mit de Fresse in'n Spiejel!”
Da wußte ich: Berlin ist nicht totzukriegen.
Was wäre Berlin ohne sein “Berlinisch”: an sich ein niederdeutsches Platt, aber mit einer eigenen unverwechselbaren Note: “Icke, dette, kiekemal, Oogen, Fleesch und Beene”: Verwechslung von Dativ und Akkusativ (allerdings: der Berliner sagt immer mir - ooch wenn”s richtig ist.) Ein Mustersatz dazu lautet: “Kümmern se sich mal um Ihnen, um mir is nich bange: ich komme ooch ohne Ihnen durch der/ ganzen Welt.” Seine Ausdrucksweise ist drastisch und blumig zugleich: (zu einem Wurstmaxe, der ihn im Verkehrsgedränge angerempelt hat) “paß up Du, mit dein i trachbaret Zimmerklosett!” Das höchste Lob, das er für etwas zu vergeben hat ist “knorke” - aber noch “dufter” ist “schnaffte”!
Er besitzt eine weitere Eigenart: für seine sonntäglichen Ausflüge mit Kind und Kegel kennt er in der schönen Umgegend nur einige wenige bevorzugte Zile und dahin geht er dann gleich “millionenweise”: im Osten Müggelsee und Spreewald nach der schönen Melodie “In Lübbenau sitzt ein Indianer hinterm Bau, der schmeißt mit sauren Gurken (sehr beliebt), was sagt man zu dem Schurken?”: im Westen der Grunewald mit den Gartenrestaurants, “wo Familien Kaffee kochen können” oder zum Wannsee, von dem glaubhaft behauptet wird, daß der Uringehalt an heißen Sommertagen über “34%” ansteigt. Es gibt zwar auch bei Spandau einen großen schönen Forst - aber da geht eben kein Aas hin.
Im ersten Frühsommer wurde ich zusammen mit einem Kollegen zu weiterer “Information” für einen Monat auf die Baustelle zweier 10 000er automatischer Fernsprechämter nach Hamburg geschickt. Selbst brauchten wir dabei nicht viel anderes zu tun, als im weißen Mantel dabei zu stehen und zuzuschauen: das ganze erwies sich als eine nicht beabsichtigte Urlaubszeit.
Man hatte uns bei einer gebildeten sehr freundlichen Dame untergebracht und wir teilten uns ein Schlafzimmer und ein behagliches Wohnzimmer. Sie hatte einen erwachsenen Sohn, der nicht mehr im Hause war und der besaß einen für dort üblichen “Kajak”, den wir benutzen durften, um bei schönem Wetter nachmitttags und auch sonntags auf der Binnenalster herumzuschippern.
In diese Zeit fiel das Pfingsfest und wir benutzten es zu einer Fahrt nach “Helgoland” für ein verlängertes Wochenende, denn bei Siemens war es Tradition, daß man auch den Pfingsdienstag noch frei hatte. (In Hamburg soll es angeblich immer regnen; aber als wir ankamen, fielen für 4 Wochen die letzten Tropfen, wenn man von kurzen Gewitterhuschen absieht - und erst am Tage unserer Rückreise nach Berlin gab es erst richtigen Regen.)
So gingen wir am Samstag Morgen bei strahlendem Wetter an Bord eines schmucken Ausflugsdampfers. Es wehte kaum Wind und herrschte auf dem Wasser nur eine schwache Dünung, in der das Schiff “schwojte”, wie man seemännisch sagt. Nachdem wir auf der Insel gelandet waren und uns ein Quartier in einem Fischerhaus besorgt hatten, gingen wir erst einmal Mittagessen. Unser Tisch stand in einer Nische, die Fenster nur oben unter der Decke besaß. Ohne uns etwas dabei zu denken, bemerkten wir, daß weißer Rauch daran vorbei zog. Um so überraschender war es für uns, daß inzwischen von See dicker Nebel hereingezogen war! Wie meistens folgte ihm bald ein starker Wind und wühlte die See auf, fegte aber zugleich den Himmel sauber.
Gegen 6 Uhr abends wurde der letzte Dampfer erwartet, und dazu pflegte man sich auf dem Landesteg niederzulassen und zuzuschauen. Die See war aber noch so grob, daß er nicht hat anlegen können und weiter draußen vor Anker gehen mußte und dicke Motorkähne die Passagiere abholten. Schon die Übernahme am Schiff schien beim Aufundabhüpfen der Boote beträchtliche Schwierigkeiten zu bereiten und ähnlich war es dann am Steg - es war ein ziemlich bleicher Zug der an uns vorbeizog (zu unserer Schande sei's gesagt: für uns ein Gaudium).
Am nächsten Tag machten wir trotz des kabbeligen Wassers eine Fahrt um die ganze Insel aber kurze harte Wellen führen nicht so sehr zur Seekrankheit wie eine lahme Dünung. Der Badestrand liegt ein Stück von der Insel entfernt parallel zu ihr in Gestalt einer Düne und war erst am nächsten Morgen wieder erreichbar. Bei der Rückreise am Dienstag Abend war die See wieder Spiegel - glatt.
In dem gleichen Gebäude wie für die Baustelle hatte ein Apotheker das oberste Stockwerk gemietet und fabrizierte selber auf ein paar Automaten Unmengen von Pillen gleich mit Verpackung. Da sie ja aufgegessen wurden, gab es immer wieder neuen Bedarf - und dies veranlaßte mich fast zu philosophischen Überlegungen. Zwar gibt es elektrische Geräte, die eine scharf definierte Lebensdauer haben, z.B. Glühlampen: nach etwa 2 000 Betriebsstunden machen sie “zisch!”, brennen durch und müssen ersetzt werden. Unsere Fernsprechtechnik war viel zu solide und langlebig. Manches überdauert mehr als 30 Jahre bei liebevoller Pflege und hätte leicht noch älter werden können, wenn nicht technischer Fortschritt zu Erneuerungen gereizt hätte. Auf anderen Gebieten war es nicht zuletzt die “Mode”.
Als ich 1930 nach Berlin übersiedelte, war schon tiefste Wirtschaftskrise und es herrschte allgemein eine miese Stimmung. So gingen wir einmal in das neben dem “Kranzier” unter den Linden renomierteste Cafe “Schottenhaml” am Tiergarten am Ende der Siegesallee, die von der Siegessäule herführte, auf beiden Seiten mit den weißen Marmorstatuen berühmter Preußen (die “Jipsonkels”), beim Volk nicht sehr angesehen. So soll einmal ein Fremder vor einem Denkmal neben einem kessen Berliner Jungen gestanden und ihn gefragt haben, was es darstelle und die Antwort erhalten haben: “Sehnse doch, det rechte Been!”
Als wir am frühen Nachmittag das Lokal, eigentlich zur Hauptzeit, betraten, war da fast vollständige Leere mit Ausnahme von zwei älteren Damen Typ “Potsdam”: schwarze Seidenkleider, Stirnlöckchen, Strehkrägelchen mit Stäbchen, um den Hals ein Samtbändchen mit Medaillon. Die “Kapelle” bestand aus einem mittelmäßigen Geiger und einem dito Klavierspieler. Die beiden Damen applaudierten nach jedem Stück durch Aufeinanderlegen ihrer Patschhändchen und mit einem huldvollen Neigen des Hauptes. Schließlich spendierten sie den Künstlern etwas zum Trinken und veranlaßten damit den Maestro zu einer Sondereinlage: “Von meine grosse Kol läge Kreisler!”
Ein andermal gingen wir mit Freunden “groß” aus: für so etwas kam nur “Kem- pinski am Kuhdamm” in Betracht. Wieder fanden wir in dem gräumigen Lokal in vornehmem roten Plüsch und Plüm nur zwei Gäste vor: die zu der Zeit berühmte Diva “Fritzi Massary” mit einer platinblonden Begleiterin. Beide schienen sehr gelangweilt und verschwanden bald. Das hatte zur Folge, daß sich nun eine Anzahl unbeschäftigter Kellner auf uns Arme stürzte, unseren Tisch dauerndumschwänzelten und uns belauerten: war man so unvorsichtig, beim Essen das Besteck aus der Hand zu legen - “schwupp” wurde einem der noch garnicht geleerte Teller fortgerissen, um zu weiteren Bestellungen zu animieren; davon hatten wir bald genug und gingen auch.
In meinem Büro saß mit mir auch ein “Urbayer”. Man muß wissen, daß es in unserer Abteilung auffallend viele Stammesgenossen gab, weil Bayern auf dem Gebiete der automatischen Telefonie einschließlich der Durchwahl im ganzen Land Pionierarbeit geleistet hatte und damit technisch einen Vorrang besaß. Da ich dienstlich mit ihm direkt viel zu tun hatte, kamen wir uns auch sonst näher und so wurde ich eines Tages zu einer “Skatrunde” eingeladen.
Zu ihr gehörte noch ein anderer Kollege und eine junge fesche Sportlehrerin von ihnen “Mariechen” genannt (eine sehr gewitzte Skatspielerin, die bei ihrem Vater erst 7 Jahre nur hatte zuschauen dürfen, ehe sie mitspielen durfte). Die Drei hatten sich auf einer Skitour in den Bergen kennengelernt und hatten die Runde nach der Rückkehr nach Berlin fortgesetzt. So kam es, daß ich mich mit der netten jungen Dame immer mehr anfreundete - merkste was?
Es blieb der Skat nicht das einzige Gefahrenmoment. Sie besaß ein eigenes Segelboot, eine 20qm Küstenjolle und hatte es nach Berlin auf die Havel überführt. Das Schiff trug ausgerechnet den Namen “Uns Leiw” (also: “Unsere Liebe”) - gegen soviel Zufall ist wohl kein Kraut gewachsen. Ich wurde immer öfter mitgenommen, und die ganzen Wochenenden über den Sommer verbrachten wir miteinander. Montags früh hetzte ich dann im Laufschritt zum Dienst - gänzlich unausgeschlafen - aber seltsam (?) glücklich.
Aber damit war es der Verführungen noch nicht genug. An einem schönen Wintermorgen machten wir zu dritt einen Spaziergang durch den leichtverschneiten Grunewald bis zu einem noch offenen Bach. Die übermütige junge Dame wollte ihn mit einem kühnen Sprung nehmen, erreichte aber das andere Ufer zu knapp -und kippte zurück bis zu den Hüften in das eiskalte Wasser! Zur Erwärmung rannten wir zum nächsten Verkehrsmittel, zu der Endhaltestelle eines Busses und fuhren damit zu der Wohnung unseres Freundes als der am nächsten gelegenen. Dort wurde ein heißes Bad und ein steifer Grog verordnet und solange Skat gespielt, bis die Kleider wieder getrocknet waren. Alles hat diese Therapie doch nicht gut gemacht: außer einer Erkältung stellte sich eine leichte Gelbsucht ein.
Es war nicht nur “christliche” Nächstenliebe, die mich zu öfteren Krankenbesuchen veranlaßte. Einer der ersten viel auf einen Adventssonntag und ausgerechnet auf ihren Geburtstag. So rückte ich zeitgemäß mit einem Tannenzweig und einer dicken roten Kerze an: die Romantik der Stimmung wurde gefährlich verstärkt durch unzähliges gefühlvolles Abspielen einer Schallplatte mit dem Song “Lied der Schiffer Jenny”.
Meine Familie und so auch ich waren von Haus aus evangelisch, Maria war aber katholisch, aber ihrem ganzen Wesen auch in dieser Hinsicht von beeindruckender Frische und Natürlichkeit, die auf mich einen sehr tiefen Eindruck machte Sonntag ging sie zur Heiligen Messe, und es war mir fast selbstverständlich, daß ich sie immer öfter begleitete. An diesem Punkt muß nun wohl auch über mein eigenes Verhältnis zu “Glauben” und “Religion” gesprochen werden.
In meiner Kindheit und Jugendzeit ist das eigentlich nie geschehen, sondern gehörte einfach dazu, weil ich von Natur aus religiös veranlagt bin. Meine Großmutter war gewiß auf ihre Art eine gute Christin, aber nicht sehr kirchlich. Oft hatte sie wegen ihrer schwachen Lunge bei ungünstigem Wetter auf den Kirchgang zu verzichten, und daraus war mit der Zeit nicht ungern eine Gewohnheit geworden, im Gegenteil zu ihrer Schwester, die ich manchmal auch begleitete, ohne etwa dazu angehalten zu werden. Gegenüber den Katholiken war sie freundlich tolerant, aber bei vielen Protestanten galten sie als ein wenig muffig, romhörig und daher politisch unzuverlässig. Das hinderte aber meine Großmutter nicht, grundsätzlich nur ein katholisches Krankenhaus aufzusuchen wegen der liebevollen Pflege dort. (Daß dies auf dem Glauben der Schwestern fußt, danach hat sie nicht gefragt und ist ihr nie aufgegangen.)
In der Kadettenanstalt war ich zur üblichen Zeit konfirmiert worden und erhielt dazu wie jeder einen besonderen “Spruch”: der meine lautete: “Herr, gib mir einen neuen und gewissen Geist!” Unser guter Pfarrer hat es nicht miterlebt, würde sich aber sehr verwundert haben, wie sich dieses Wort bei mir spä ter mit meinem Übertritt zum katholischen Glauben wunderbar erfüllt hat.
Auch während meiner Studienzeit bin ich immer wieder einmal sonntags zur Kirche gegangen; das hat meiner guten alten Wirtin als verwitweter Pfarrersfrau gewiß gefallen, geschah aber durchaus nicht ihretwegen.
Schon in Dresden hatte ich eine Begegnung, die auf meine religiöse Entwicklung zwar mir unbewußt einen tiefen Einfluß ausgeübt haben muß. In der weltberühmten Gemäldesammlung des “Zwingers” hing auch die ebenso berühmte “Suxtinische Madonna” - und schlug mich in ihren Bann. Manche Stunde habe ich dort in stillem “Schauen” verbracht.
In Berlin fand im Herbst schon damals regelmäßig die “Funkausstellung” statt, die ich als “elektrischer Techniker” selbstverständlich besuchte - in Begleitung, versteht sich. Wir hatten uns die Füße wund gelaufen, waren müde, und so brachte ich Maria gleich zu der kleinen Pforte, durch die man direkt hinter meiner Wohnung durch ein Wäldchen das Reichssportfeldgelände erreichen konnte, wo sie in dem “Annaheim” für Sportlehrerinnen gerade einen Kursus besuchte.
Auf dem Wege hatten wir uns für eine Weile auf dem Gras niedergelassen und waren auf unser Verhältnis zueinander zu sprechen gekommen mit der traurigen Erkenntnis, daß wir uns wegen des Glaubensunterschieds niemals würden heiraten können und dürfen - wir waren uns darin einig, daß in einer Ehe im Glauben volle Übereinstimmung herrschen müßte! Es wurde uns hundeelend (wir liebten uns doch) und waren an Leib und Seele durchgefroren - und taten nun das einzig Vernünftige: gingen zu dem nicht weit entfernten kleinen Restaurant am Sachsenpark, aßen eine kräftige Portion Makkaroni mit Schinken und tranken einen heißen Grog - und dann war uns bedeutend wohl er.
Im Herbst wurde das Boot ins Winterlager nach Cammin in Pommern gebracht, wo ja auch die Eltern lebten. Wir schipperten also mit dem Außenbordmotor den Finowkanal entlang bis zum Schiffshebewerk und dann weiter die Oder abwärts bis zur letzten Brücke hinter Stettin; dort konnten wir Segel sezten quer durchs Haff unter Wollin vorbei in den Camminer Bodden.
Dort erwartete uns schon eine (zukünftige) neugierige “Schwiegermutter”. Erst später hat man mir gebeichtet, daß die Ankündigung unseres Besuches den schicksalschweren Hinweis enthalten hatte: “... und bringe Euch den Mann mit, den ich heiraten werde ...” - ahnungsloser Engel, der ich war.
Für mich fiel die Ankunft etwas ungünstig aus: das erste, das von mir zu sehen war - mein Hinterviertel, weil ich gerade bis zum Halse vorn in der Luke steckte, um unsere Plünnen zusammenzusuchen. Aber der Eindruck ist wohl doch nicht ganz negativ geblieben, denn ich wurde sehr freundlich aufgenommen (die Zukunft wurde noch diskret mit Schweigen übergangen).
Hier muß einfach pommerscher Gastfreundschaft gedacht werden, qualitativ und quantitativ. Wir hatten das schöne Oktoberwetter dazu verwendet, über den Bod den bei Dievenow auf die See hinaus und dann dicht an der Küste entlang zu se geln. Der besondere Reiz besteht darin, daß sich gleich hinter dem Strand bis etwa Kolberg auf der Düne ein schmaler Waldstreifen entlang zieht, der auch an trüben Tagen Spaziergänge ermöglicht, wenn es am Strand zu unwirtlich ist. Wenn man wie wir an einer bestimmten Stelle an Land geht, trifft man mitten zwischen den Bäumen auf den wunderhübschen “Jordansee” und wähnt sich weit vom Meer weg.
Wir kamen ein bißchen angefroren und mit einem Bärenhunger zurück - und da war eine pommersche Mutter gerade in ihrem Element. Es begann mit “Klieben- suppe”, einer Mehl suppe mit Eigelb, Klößchen und Eischneeflocken mit Zuk- ker und Zimt bestreut (hätte schon allein gesättigt): dann folgte frischer, weil erst am gleichen Morgen von den Fischern hereingebrachter “Steinbutt” (groß wie - Verzeihung - Klosettdeckel) schweren Koteletts mit gemischtem Gemüse mit reichlich (Pommern!) Salzkartoffeln und zum Abschluß Kaffee mit selbstgebackenen “Waffeln” mit Puderzucker bestreut. Nur dem Umstand ist es zu verdanken, daß zwischen den Gerichten Zubereitungspausen lagen und wir so alles ohne ernsthaften Schaden schafften.
Darauf folgte zur Erholung der traditionelle “Dauerskat”. Mir kamen die Lehrjahre in Sachsen, der Heimat dieses Spieles, zugute, und ich konnte mithalten - ohne Zweifel ein wichtiger Pluspunkt für mich vor allem bei dem alten Herrn
Offensichtlicher “Fügung” entgeht man nicht. Anfangs hatte ich meine Gefährti ab und zu und schließlich regelmäßig zur Messe begleitet. Zunächst war mir an dem katholischen Ritus vieles fremd. Beeindruckte seine Feierlichkeit mein empfindsames Gemüt schon sehr, noch tiefer die Innigkeit ihrer Teilnahme.
Nun begab es sich einmal, daß die schlichten und hehren Worte der Einsegnung des Allerheiligsten, die Christus durch den Mund des Priesters spricht, mich zum erstenmal in die Knie zwangen und wie Tropfen roten Blutes in mein Herz fielen - es war endgültig umd mich geschehen ! !
Sehr bald meldete ich mich nun zum Konvertitenunterricht bei einem alten würdigen Jesuitenpater an, der zugleich Seelsorger an der Kirche St. Clemens im Innenhof in der Nähe des Anhalter Bahnhofs war. In dem Spitzwegstübchen im obersten Stock habe ich unvergeßliche und entscheidende Stunden verbracht, in denen mir ganz neue religiöse Einsichten zuteil wurden. Es war eigentlich kein “Unterricht”, sondern zwangloses Zwiegespräch: nach für mich erstaunlich kurzer Zeit wurde ich in die Kirche aufgenommen und empfing die Heilige Taufe.
Hierzu muß man wissen, daß die evangelische Taufe von der Kirche nicht voll anerkannt wird, sondern wie es heißt “bedingungsweise” erteilt wird, falls vorher etwas “versehen” worden sein sollte, das die Gültigkeit beeinträchtigen könnte. Ungewöhnlich war aber doch dabei, daß es eigentlich schon meine dritte Taufe wurde: sofortige “Nottaufe” wegen meines schwächlichen Zustandes bei der Geburt, bei der ich auch Vornamen aus der Familie meiner Mutter erhielt. Das war meiner Großmutter garnicht recht: nachdem ich mich sehr rasch gekräftigt hatte, ließ sie mich noch einmal “richtig” taufen mit lauter Hünerbeinschen Vornamen - genützt hat das aber nichts, denn rechtlich gelten die ersten im Standesamt eingetragenen - und ich bin es durchaus zufrieden.
Meinen Übertritt hatten wir den Eltern zunächst verheimlicht. Was er für meinen tiefgläubigen Schwiegervater bedeuten mußte, lag auf der Hand, aber wir wollten ihn bei der Hochzeit damit überraschen, daß sein Lieblingskind nun doch einen Gatten gleichen Glaubens erhalten würde. Übrigens hat er niemals versucht, mich zu beeinflussen oder gar zu drängen. Das Äußerste war eine kleine Bemerkung in einem seiner Briefe an mich, daß ja unsere Familie schließlich über Jahrhunderte katholisch gewesen sei. Es scheint, daß diese Erkenntnis für meinen Entschluß doch nicht ganz ohne Einfluß geblieben ist.
Die Trauung sollte mit Rücksicht auf den Schuldienst der Braut in den Ferien am Heiligen Abend zuhause bei den Eltern stattfinden. Für das Standesamt hatten wir nicht bedacht, daß dort zu den hohen Festen ein besonderer Andrang zu herrschen pflegte und so erhielten wir keinen zur Hochzeit näheren Termin als den 16.12. Wieder einmal erwies sich die Welt als sehr klein: als die Zeremonie beendet war, fragte mich der Beamte, wie häufig offensichtlich ein ehemaliger Offizier: “Haben Sie einen Verwandten, der mit mir in Grau- denz bei der Artillerie gestanden hatte?” Nun hatten sich wie oft in meinem Leben Schicksalslinien gekreuzt und verknotet: es handelte sich um den jüngeren Bruder meines Vaters, also meinen Onkel und später sogar meinen Vormund.
Sonst war die Trauung vom Glück nicht gerade begünstigt. Genau an diesem Tag hatten wir im Werk Besuch des Direktors unserer französischen Niederlage in Paris zu einer wichtigen technischen Besprechung gerade auf meinem Arbeitsgebiet, bei der ich unentbehrlich war. Wir nahmen mit unseren Freunden im
Funkturmrestaurant ein rasches Essen ein, sie gingen dann zu uns und ich bestieg ein Taxi zu der Besprechung.
Am 23. kamen wir erst am späten Abend bei den Schwiegereltern an und konnten ihnen als erstes das Dokument über die Aufnahme in die katholische Kirche aushändigen - die Glückseligkeit insbesondere des alten Vaters war unbeschreiblich.
Auch die kirchliche Trauung verlief nicht ohne eine gewisse Dramatik. Es hatte ohne Schneedecke einige Tage Stein und Bein gefroren und spiegelglattes Eis auf den Wegen erzeugt. Cammin besitzt einen ehrwürdigen, aber längst evangelischen Dom, aber nur eine bescheidene katholische Kapelle auf einem Hügel inmitten der Stadt; eine schmale Straße mit Katzenkopff1aster führt zu ihr hinauf. Infolge der Vereisung schaffte es das Taxi nur gerade bis zum unteren Ende des mit einer Mauer und Gittern darauf eingezäunten Kirchengrundstückes. Es gab keinen Fußweg, sondern eine schräg ansteigend-^ ebenfalls grob gepflasterte Ablaüfrinne. Der Brautvater, durch ein schweres Hüftleiden behindert, wurde von den kräftigen Söhnen hochgehievt, wir andern, mehr rutschend als gehend hangelten uns an den Gitterstäben bis zur Eingangspforte hoch. Die Rückfahrt verlief ähnlich, nur daß der Wagen wegen der Glätte nicht wenden konnte. Also löste der Fahrer die Bremsen nur gerade soweit, daß wir sanft in der Rinne bis in die Ebene hinunter schlidderten.
Wegen unserer bescheidenen Mittel wurde nur im engsten Familienkreis mit Eltern und GeschwiStern zu Hause gefeiert (nach dem Ableben aller meiner älteren Verwandten war ich ja wirklich ganz allein). Schon in aller Frühe hatte es mit einer Messe und die zugleich mit meiner ersten heiligen Kommunion begonnen. Dann kam die Trauung und (damals noch) um Mitternacht eine Messe zum Eingang in das Weihnachtsfest. Dann saß man zu Hause noch eine Weile zusammen.
Das “Brautgemach” war in einem Zimmer aufgebaut worden und zwar für Segler ganz zünftig aus “Bootsmatratzen” und außerdem mit einem “Flaggenalphabet” als Geschenk geschmückt. Es versteht sich, daß wir beide nach solch einem Tag völlig erschöpft in die “Polster” sanken und unverzüglich einschliefen.
Aus der Zeit vorher und unser Leben in Berlin soll aber doch noch einiges berichtet werden. Bei dem jungen Ärztepaar hatte sich Nachwuchs angekündigt, dem ich Platz machen mußte. In Ruhleben, ganz im Westen am Fuß des Reichssportfeldes fand ich in einem modernen Einfamilienhaus ein schönes Zimmer, das mit Fenstern bis zur Erde auf den Garten hinausblickte. Es war da noch ein ähnlicher Raum daneben - und den bezog unser bayrischer Skatgenosse.
Übrigens hatte der sich mit einer jungen Kollegin meiner Lia angefreundet (und hat sie sehr bald geheiratet). Damit wurde aus uns ein Quartett mit gemeinsamen Unternehmungen vor allem im Winterhalbjahr, wenn die Segelei ruhte.
Inzwischen war aus mir doch noch ein passabler Tänzer geworden und wir genossen die mannigfachen Gelegenheiten, die die Großstadt bot. Besonders beliebt war bei uns (und dem Geldbeutel angemessen) das “Haus Vaterland” dicht beim Potsdamer Bahnhof: ein mehrstöckiges Gebäude mit vielen eigens ausgestatteten Räumen mit verschiedenem Stil und der dazu passenden Tanzmusik: mexikanische Kneipen, spanische Bodegas, italienische Trattorias, aber auch Asiatisches und Afrikanisches. Man schlenderte hindurch und ließ sich nach Gefallen da und dort eine Weile nieder. Nachdem ich nun schon seit Jahren im Rheinland lebe, gehört es sich, daß ich einen großen Raum erwähne mit einer “Rheinterrasse”. An einer Seite befand sich ein halbrundes Podium, das mit einem Panorama mit einem Rheinblick abgeschlossen war: der Clou bestand aber darin, daß durch Beleuchtungs- und Klangeffekten ein richtiges “Gewitter” erzeugt werden konnte - etwas kitschig, aber doch ganz stimmungsvoll. Die einzige Sorge bei dem Vergnügen war, noch die allerletzte S-Bahn nach Hause zu erwischen: das war immerhin gegen 3 Uhr morgens.
Ein anderer Ort war der Tanztee im Hotel “Eden”, sehr gepflegt, aber doch er schwinglich. Noch anziehender ein Tanzcafe auf dem Dach, dessen Decke bei guter und warmer Witterung zur Seite gezogen werden konnte, so daß man in einer Sommernacht unter freiem Himmel sitzen konnte, sanft begleitet von nächtlichem Löwengebrüll aus dem gegenüber liegenden Zoo. Nur eine unerfreuliche Erinnerung ist mir geblieben: in einem jähen Anfall von Lebensbejahung bestellten wir eine Flasche “Bernkasteler Doktor” für gute 10 Mark - aber die Flüssigkeit erwies sich leider als “Sauerampfer”.
An Theater und ähnlichem war natürlich ein großes Angebot mit ersten Kräften Unvergeßlich sind mir ausgerechnet Sachen sozusagen im Geiste der “Schauerbühne in Naumburg: in der Staatsoper ein zum Erbarmen “kicksender Cavara- dossi” (der aber zum zweiten Akt glücklicherweise ausgetauscht wurde - mit Sicherheit haben wir Zuhörer noch viel mehr gelitten als der Sänger) und eine Boheme- Aufführung in der Städtischen Oper mit einem tüchtigen Anachronismus. Zu Beginn des zweiten Aktes warten bei Dunkelheit und Winterkälte die Marktfrauen vor dem noch verschlossenen Stadttor und rufen nach Einlaß. Schließlich kommt auch der Torwärter - auf einem “Fahrrad”! Nicht vielen dürfte aufgefallen sein, daß es so etwas zu der Zeit noch garnicht gegeben hat - aber was soll's? Das ist doch inzwischen für jeden zu einer zeitlosen Selbstverständlichkeit geworden.
Ich möchte wetten, daß die jüngere Weiblichkeit unter uns sehr gern noch mehr über meine “Herzensangelegenheiten” erfahren möchte, und schließlich gilt auch für mich: “Homo sum - et nil humanum mihi alienum”. In diesem Bericht ist auch einiges (aber auch nicht alles) darüber zu lesen; aber ich will nicht so sein uns noch einmal alles in Stichworten und in heiterer Form zusammenzufassen:
“niedliches Nachbarskind, dessen Anziehungskraft für mich mehr aus einem verlockenden Dampflokomobil auf dem väterlichen Hof bestand: unseres Bäk- kers Töchterlein, das mein Herz beim Einkäufen mit heimlich zugesteckten Süßigkeiten bezwang: mit einer Gespielin der Austausch zarter Liebeserklärungen in winzigen Wachstuchheftchen verborgen: ein bißchen mehr als jugendliche Schwärmerei für die hübsche und anziehende Schwester meines besten (und einzigen) Freundes (eine Neigung, die sich in abgeklärter Form bis in mein hohes Alter hinüber gerettet hat): die fesche Sportlehrerin mit einem eigenen Segelboot, das sich für mein Seelenheil als äußerst gefährlich erwiesen hat: von selbiger im Skat “gewonnen” und von ihr kurzer Hand geheiratet “geworden”; die Ehe mit ihr von festem Bestand geht bereits der Diamantenen Hochzeit entgegen - und vielleicht noch ein paar Jährchen, so Gott will - und dies nicht aus eitel Tugendhaftigkeit bei mir, sondern weil aus Veranlagung unerschütterlich “treu” und rettungslos “monogam”.
Ein alberner Spruch sagt:
„mit der Heirat ist die Mark nur noch fünfzig Pfennige wert”
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wesentlich ist aber doch wohl, daß sie tief in das ganze bisherige Dasein einschneidet! Nach den langen Jahren als “Einzelner” tut sich in einem Mit- und Füreinander eine neue beglückende “Zweisamkeit” auf ...
ENDE
Hans von Hünerbein – Kindheit, Jugend, Schule, Studium, Heirat 1903 – 193149/53